Ein gemeinsamer Spitzenkandidat der Opposition soll Ungarns Premier aus dem Amt drängen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der Septembermorgen ist recht kühl an jenem Freitag im Budapester Arbeiterviertel Kispest. "Oh je, Sie haben aber kalte Hände", sagt Klara Dobrev zu der älteren Dame, die zusammen mit etwa drei Dutzend Altersgenossinnen und -genossen zur Statue von Lajos Kossuth gekommen ist, um die potenzielle Herausfordererin von Viktor Orban zu sehen. Wie ein frischer Wind schwebt die 48-jährige Politikerin ein, blickt in müde, blasse, faltige Gesichter, schüttelt Hände. Empathisch ist Dobrev, eloquent, kämpferisch und motivierend, wenn sie hier davon spricht, dass es im kommenden Frühjahr nicht nur darum gehe, bei der Parlamentswahl die Regierungspartei Fidesz zu besiegen, sondern darum, Orbans System abzuschaffen. Eine Powerfrau im Revolutionsmodus.
Dobrev von der sozialdemokratischen Partei DK hatte sich zusammen mit vier weiteren Politikern bei einer Vorwahl für die Position des gemeinsamen Spitzenkandidaten beworben, der - unterstützt von allen Oppositionsparteien - gegen Orban antreten soll. Bei der ersten Runde dieser Vorwahl ging Dobrev überraschend mit 35 Prozent in Führung. Der links-grüne Budapester Oberbürgermeister Gergely Karacsony (46), den viele für den chancenreichsten Kandidaten gehalten hatten, kam dabei auf 27 Prozent. Auf Platz drei landete der parteilose Konservative Peter Maki-Zay (49) mit 20 Prozent. Diese drei stellen sich voraussichtlich der zweiten Runde der von den Parteien selbst organisierten Vorwahl - falls sich nicht ein Kandidat zugunsten des anderen zurückzieht.
Vorwahl übertraf Erwartungen
Die beste Nachricht dieser Tage aus Ungarn ist, dass diese Vorwahl überhaupt stattfindet. Mit 632.479 abgegebenen Stimmen hat die Beteiligung alle Erwartungen weit übertroffen. Dies zeigt, dass die Schockstarre schwindet, unter der das Land angesichts der Übermacht Orbans über Medien, Wirtschaft und Justiz leidet. Seit Orbans Wahlsieg 2010 hatte sich immer mehr Angst und Resignation breitgemacht. Insbesondere für Ungarn in den vielen kleineren Orten in der Provinz, wo jeder jeden kennt, hat bisher regelrecht Mut dazu gehört, gegen Fidesz zu stimmen. Jetzt bekommen sie das Gefühl, mitreden zu können.
Gute Nachricht Nummer zwei: Die Oppositionsparteien von rechts, liberal bis links und grün setzen ihre Strategie des Zusammenschlusses gegen Orban fort, die sie schon 2018 und 2019 bei Kommunalwahlen teilweise erfolgreich erprobt hatten.
Drittens ist es der Opposition durch die Vorwahl gelungen, etwas von der Lufthoheit über den Stammtischen zurückzuerobern: Dort wird jetzt nicht mehr nur über Orbans Themen geredet, sondern über solche, die die Opposition setzt. Bisher hat Orban eine angebliche Gefahr an die Wand gemalt, die von Homosexuellen mit Unterstützung Linker und Liberaler ausgehe. Er startete dazu sogar ein Referendum. Bei Karacsony, der auch für Orban als wahrscheinlichster Herausforderer galt, fand man keine wirklichen wunden Punkte. Deswegen startete Fidesz eine Petition unter dem Titel "Stopp Karacsony! Stopp Gyurcsány!" Gemeint ist Ferenc Gyurcsany, sozialdemokratischer Ministerpräsident Ungarns von 2004 bis 2009. Seine Amtszeit war von gewalttätigen Unruhen im Herbst 2006 überschattet, ausgelöst durch die Veröffentlichung einer fraktionsinternen Rede, in der Gyurcsany eingeräumt hatte, die Wähler belogen zu haben.
Das Gyurcsany-Thema könnte jetzt aber weiter an Fahrt aufnehmen, weil der Ex-Premier der Ehemann von Klara Dobrev ist. Viele meinen gar, dass bei Fidesz jetzt schon die Sektkorken geknallt hätten angesichts der Aussicht, dass ihnen mit Dobrev eine Gegenkandidatin mit Angriffsflächen auf familiärer Ebene geschenkt werden könnte. Gyurcsany, dem es gelungen ist, seine DK zur umfragestärksten Oppositionspartei aufzubauen, bleibt bei vielen Links-Liberalen Ungarns verhasst - unter anderem wegen seines als egozentrisch empfundenen Führungsstils. Hingegen kann der bedächtige, eher introvertiert wirkende Karacsony eher mit Kompromisskunst punkten. Als Vertreter der Minipartei PM (Dialog für Ungarn) muss er im Budapester Stadtrat mit den vielen anderen Koalitionspartnern zurechtkommen.
Dobrevs "politischer Humbug"
Zwischen Dobrev und Karacsony zeichnete sich ein fundamentaler Unterschied in den Vorstellungen darüber ab, wie man im Falle eines Wahlsieges das Orban-System am besten knacken könnte. Dobrev plädiert dafür, mit einfacher Parlamentsmehrheit Verfassungsartikel abzuschaffen - obwohl dazu eigentlich Zwei-Drittel-Mehrheiten notwendig wären. Das Grundgesetz sei "verfassungswidrig", außerdem werde sowieso kein Ungar zu dessen Verteidigung auf die Straße gehen, sagt Dobrev.
Karacsony bezeichnete dies jüngst in einer TV-Debatte als "politischen Humbug". Er will als Erstes die Geldhähne für die Fidesz-Oligarchie zudrehen lassen. Dies könne das Finanzamt durch Kontensperrungen tun, zudem könne man den Chef des Finanzamts mit einfacher Mehrheit auswechseln.
Was aber wäre, wenn Marky-Zay das Rennen machte? An manchen liberalen Budapester Stammtischen favorisiert man ihn als besten Herausforderer Orbans - obwohl man sein Weltbild eines tiefgläubigen Katholiken und Vaters von sieben Kindern nicht teilt. Der Grund: Marky-Zay kann mit den Stimmen der rechten Partei Jobbik rechnen, deren Kandidat Peter Jakab bei der Vorwahl durchgefallen ist. Viele trauen Marki-Zay am ehesten zu, enttäuschte frühere Fidesz-Wähler zu gewinnen. Jobbik wurde 2003 als rechtsextreme, antisemitische Partei gegründet. Inzwischen verkauft sie sich als bürgerlich-konservativ, nachdem sich ein rechtsradikaler Flügel abgespalten hat. Hilfreich für das neue Image ist auch die Tatsache, dass sich Jakab zu den jüdischen Wurzeln seiner Familie bekennt.
Diese heterogene Oppositionskoalition dürfte für ihren Zusammenhalt gegen Orban noch oft kämpfen müssen. Doch gibt es gute Zeichen, wie jene Friseuse, die in der beliebten Bürgertelefon-Sendung von György Bolgar im oppositionellen Sender Klubradio anrief: Sie sei eine linke Atheistin, sagte die Anruferin, doch würde sie im Zweifel sogar für Marki-Zay stimmen, um Orban loszuwerden.