Die russische Armee zeichnet sich durch enorme Inflexibilität aus. Warum das so ist, weiß Militärpsychologe Hubert Annen.
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Drei Monate tobt der Krieg in der Ukraine, die russischen Angreifer haben sich mittlerweile in weiten Teilen der Regionen Donezk und Luhansk festgesetzt. Die ukrainische Seite berichtet von massivem Artilleriebeschuss; langsam und schrittweise rücken die russischen Angreifer vor. Die Invasoren erleiden allerdings massive Verluste an Menschen und Material. Ob das auch an einer veralteten Kommandostruktur der Russen liegt, hat die "Wiener Zeitung" den Schweizer Militärpädagogen Hubert Annen gefragt.
"Wiener Zeitung": Zuletzt hat die russische Armee bei dem Versuch, den Fluss Siwersky Donez zu überqueren, ein militärisches Debakel erlitten. Die Rede ist von hunderten Toten und massiven Verlusten an Panzern und Fahrzeugen. In dem Zusammenhang heißt es, dass die russischen Offiziere Entscheidungen stets nach oben delegieren und die Armee deshalb unflexibel und starr ist. Wie sehen Sie das?
Hubert Annen: Hier kann man auf den Unterschied zwischen Befehls- und Auftragstaktik verweisen. Die Auftragstaktik kommt aus dem 19. Jahrhundert, wurde von den Preußen im deutsch-französischen Krieg angewandt, weil die Schussdistanzen aufgrund der neuen Technologien größer wurden und die Offiziere keinen direkten Zugriff mehr auf die Untergebenen hatten. Deshalb musste man den Unterstellten mehr Entscheidungsfreiheit geben, was sich offenbar bewährte. Anhand der vorliegenden Informationen ist anzunehmen, dass in der russischen Armee sofort bestraft wird, wenn eine Operation nicht gut läuft; man hat gehört, dass Offiziere entfernt wurden. Was mit denen passiert, weiß ich nicht. Aber die Folge ist, dass man aus Angst, etwas falsch zu machen, die Verantwortung nach oben abschiebt. Wenn alles auf Befehl und Gehorsam basiert, dann denkt niemand mehr mit, sondern führt einfach Befehle aus. Das führt dazu, dass man nicht mehr flexibel auf sich verändernde Lagen reagieren kann.
Was wir bei den Russen sehen, ist also die Befehlstaktik, die ganz alte Art, eine Armee zu führen. Das erinnert an Strukturen, wie sie im Kommunismus üblich waren, in der Sowjetzeit. Da hat das ja so in der Verwaltung funktioniert. . .
Dass die Macht zentralisiert wird, hat man jetzt in Russland ganz deutlich gesehen - und dass die Entscheidungen dann logischerweise ganz weit oben gefällt werden. Weiter unten wird aus Angst vor Sanktionen keine Initiative ergriffen.
Wladimir Putin regiert allgemein sehr autoritär. Jetzt gibt es Hinweise darauf, dass sich Russlands Präsident im Ukraine-Krieg in Details einmischt und Sachen entscheidet, die eigentlich in die Zuständigkeit eines Majors oder Obersten fallen. Ohne das 1:1 vergleichen zu wollen - aber hat nicht auch Hitler nach den ersten großen Rückschlägen im Krieg gegen die Sowjetunion begonnen, sich in militärische Detailfragen zu verstricken?
Ich kann das nur aus psychologischer Sicht kommentieren. Das ist auch in der Privatwirtschaft oder im Umfeld der Verwaltung zu sehen: dass Führungskräfte mit zunehmender Hierarchiestufe den Bezug zur Realität verlieren. Sie bekommen kein Feedback mehr, es sagt ihnen niemand: "Schau, davon hast Du gar keine Ahnung." Das traut sich niemand mehr. Mit der Zeit bekommen sie dann das Gefühl, dass sie wirklich alles wissen und können. Und wenn etwas nicht gut läuft, haben sie den Eindruck, dass sie ihren Einfluss geltend machen müssen. Das sorgt im Mikromanagement in der Privatwirtschaft auch für Unmut. Denn meistens hat die Führungsperson die wichtigen Informationen von der Basis nicht, und die Gefahr von Fehlentscheidungen ist dann groß.
Kann man zwischen Armeen und Firmen wie Volkswagen Vergleiche ziehen? Ist eine Armee nicht doch etwas völlig anderes als ein Großkonzern?
Sobald ein Unternehmen eine gewisse Größe hat und hierarchisch strukturiert ist, spielen sich aus sozialpsychologischer Sicht ähnliche Mechanismen ab. Was passiert mit jemandem, der Macht hat, welche Informationen bekommt der noch? Leute beginnen, sich mit zunehmender Hierarchiestufe zu überschätzen. Das führt zu gewissen sozialpsychologischen Mechanismen, die durchaus vergleichbar sind.
Zu Beginn des Ukraine-Krieges haben Experten gerätselt, warum so viele russische Generäle gefallen sind. Haben Sie da eine Theorie?
Auf Basis der Informationen, die mir vorliegen: Ich denke, dass, als die Operation nicht wie gewünscht verlaufen ist, die oberen Führungskräfte zu nahe an die Front gerückt sind und sich zu stark eingemischt haben. Sie waren viel näher am Geschehen, als das normalerweise der Fall ist.
Die Generäle waren also aus eigenem Antrieb so weit vorne und nicht, weil es ihnen aus Moskau so befohlen worden war?
Ja. Und scheinbar hat die Kommunikation auch nicht gut funktioniert. Das ist häufig auch über das Handynetz gelaufen. Das bringt eine Führungsperson dazu, zu sagen: Jetzt muss ich selbst vor Ort nachschauen und dafür sorgen, dass die Sache richtig läuft.
Was machen die Ukrainer eigentlich anders?
Sie haben den Vorteil, dass sie auf dem eigenen Gelände kämpfen, sie verteidigen ihre eigenen Dörfer, das ist hinsichtlich der Moral ein deutlicher Vorteil. Als Verteidigungsarmee hat man da natürlich gewisse Vorteile. Wenn aber eine Übermacht zu überlegen ist, sind auch solche Faktoren letztlich nicht entscheidend.
Und die Entscheidungsstrukturen in der ukrainischen Armee? Wird hier mehr nach unten delegiert?
Ich denke, das hat sich zwangsweise so ergeben. Man kann gar nicht anders, als die Entscheidungen an die einzelnen Kampfeinheiten zu delegieren, weil die die Lage vor Ort am besten kennen. Ich glaube, dass die Ukrainer wegen der Gegebenheiten stärker nach der Auftragstaktik führen.
Wie wurde eigentlich im Zweiten Weltkrieg gekämpft? So ähnlich, wie die russische Seite das heute noch macht? Oder hat man sich weiterentwickelt?
Ja, wahrscheinlich schon. Ich kann von der Moral her sagen, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg einiges richtig gemacht haben, indem sie die Einheiten von Grund auf gebildet haben und die Männer gemeinsam an die Front gegangen sind. So haben sie eine große Kohäsion entwickelt. Das hat in der Anfangsphase gut funktioniert.
Armeen in demokratischen Staaten und Armeen in Diktaturen: Gibt es da Muster? Werden Armeen in Diktaturen generell anders geführt?
Es gibt da kulturelle Unterschiede, die sich in den jeweiligen Armeen äußern. Es gibt eine militärische Kultur, die heißt: Befehl und Gehorsam. Das ist bei allen Armeen gleich. Ich habe Kontakte auf der ganzen Welt, da versteht man sich schnell: dass es hierarchisch zugeht, im Zweifelsfall der Führungsperson zu gehorchen ist, der Auftrag zuoberst steht. Das muss jede Armee befolgen, sonst kann sie nicht erfolgreich sein. Wenn man natürlich von der Schule her gewohnt ist, seine eigene Meinung zu äußern und Autorität zu hinterfragen, dann wird das auch in der Armee spürbar werden. Wenn das aber nicht so ist, hat eine Militärorganisation ein leichteres Spiel, die Befehlstaktik durchzusetzen.