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Genetiker: "Britische Corona-Mutation ist ein Weckruf"

Von Eva Stanzl

Wissen

Immer neue Mutationen des Coronavirus könnten immer weitere Infektionswellen bringen. Wie sich das auf den Alltag auswirken könnte und was wir über die Mutanten bereits wissen, erklärt der Genetiker Andreas Bergthaler.


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"Wiener Zeitung": Neue Mutationen des Coronavirus könnten zu weiteren größeren Infektionswellen führen. Laut London School of Hygiene and Tropical Medicine ist die in Großbritannien entstandene Variante namens B.1.1.7 um 56 Prozent stärker übertragbar. Warum?

Andreas Bergthaler: Wissenschaftlich steht das Urteil aus. Die britische Variante hat 17 Mutationen, von denen drei bis vier relativ gut unter Laborbedingungen beschrieben sind. Es gibt Anhaltspunkte, dass die Variante sich mit ihrem Spike-Protein stärker an den Rezeptor ACE-2 bindet, der dem Coronavirus das Tor zur Zelle öffnet. Beobachtet wurde auch, dass sie unter Umständen zu höheren Virus-Titern wächst, man also mehr Virus in den Nasenschleimhäuten bildet und daher mehr Viruspartikel in die Luft abgibt, was eine Ansteckung des Gegenübers wahrscheinlicher macht. Jedoch heißt das nicht, dass sich diese Merkmale im Menschen im Kontext der restlichen Mutationen genau so verhalten wie im Labor. Theoretisch könnte der mutierte Erreger mit einem verkürzten Infektionsintervall einhergehen und sich schneller von Mensch zu Mensch fortpflanzen.

Warum rätselt man über die Eigenschaften einer Mutation, wo doch am Beginn der Pandemie das gesamte Coronavirus blitzschnell genetisch sequenziert werden konnte?

Das Sequenzieren ist in einigen Tagen erledigt. Eine Mutation, also eine Veränderung des Erbguts, ist normal bei Viren. Ihr Erbgut besteht aus RNA und beim Kopiervorgang von RNA passieren oft Fehler. Um die Mutationen festzustellen, muss man die RNA-Sequenzen im Labor untersuchen und sie mit dem ursprünglichen Coronavirus-Genom oder seinen Mutationen vergleichen. Aber zu verstehen, was eine Mutation tut, ist etwas anderes. Laborexperimente und klinische Beobachtungen zusammen können zeigen, welchen Einfluss einzelne Mutationen auf den Infektionsverlauf haben. Vor Corona dauerten solche Forschungsarbeiten Monate und Jahre.

Wir hätten genug Infektionsfälle, um diese Beobachtungen zu machen. Was genau dauert so lange?

Natürlich hätten wir genug Patienten, aber darauf allein kommt es nicht an. Wir müssen genetisch-molekularbiologische und klinische Analysen durchführen und brauchen eine hohe Zahl und Variation, auch zumal jeder Patient eine andere Genetik hat. Es ist nicht einfach, das wissenschaftlich mit Sicherheit festzustellen.

In Großbritannien gibt es ein Konsortium für die Genom-Sequenzierung des Coronavirus, das etwa 10.000 Virusgenome pro Woche analysiert, um die Verbreitung und die Entwicklung des Virus besser zu verstehen. Wie schnell ist Österreich beim Sequenzieren?

Österreich liegt bezüglich der Anzahl der bisher sequenzierten Proben pro positiven Tests im Mittelfeld. In Dänemark werden zwölf Prozent aller positiven Fälle sequenziert, das ist mehr als jede zehnte Probe. In Großbritannien sind es fünf Prozent, in der Schweiz eines, bei uns 0,3 und in Deutschland 0,2 Prozent.

Warum liegt Großbritannien bei der Sequenzierung vorne?

Die Regierung in London hat Anfang des Vorjahres 20 Millionen britische Pfund dafür auf den Tisch gelegt. In den meisten anderen Ländern gibt es unterschiedliche Strategien. Vieles ist in akademischer Eigeninitiative entstanden. Hierzulande war das für den Staat bis kurz vor Weihnachten kein äußerst wichtiges Thema.

Mangelt es in Österreich am Geld oder an den Laborstrukturen?

Ursprünglich mangelte es am Verständnis. Das Forschungszentrum für Molekulare Medizin (Cemm) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien hat im März entschieden, es durchzuführen, weil es damals in Österreich noch keine sequenzierten Viren gab. Mittlerweile haben wir 1.800 Proben sequenziert. Bis vor kurzem bekamen wir vom Staat so gut wir kein Geld dafür, sondern finanzierten es aus dem Institutsbudget und einem 50.000-Euro-Grant des Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds. Seit Oktober gibt es einen Vertrag mit der Ages und jetzt ein Bekenntnis, es deutlich auszuweiten. Wir hoffen, dass nun die notwendigen Mittel bald zur Verfügung gestellt werden.

Dem deutschen Robert-Koch-Institut sind 1.800 Virus-Varianten bekannt. Wäre es angesichts der Menge sinnvoll, wenn die Länder bei der Sequenzierung kooperieren würden?

Die Sache ist dynamisch. Man muss ständig sequenzieren, weil Viren sich ständig verändern. Aus diesem Grund macht es Sinn, selbst Kapazitäten aufzubauen und nicht abhängig zu sein von anderen. Doch es gibt Länder, die sich diese Strukturen nicht leisten können. Ich vermisse eine europäische Initiative, in der Länder, die Kompetenzen aufgebaut haben, etwa Partnern in Osteuropa unter die Arme greifen. Je früher wir neue Varianten kennen, umso eher können auch wir reagieren. Wir müssen laufend Viren-Partikel von positiv Getesteten sequenzieren in einem permanenten Monitoring. Im Durchschnitt sammelt Sars-CoV-2 im Monat zwei Mutationen an. Wenn man das nicht sequenziert, hat man keine Ahnung.

Die zugelassenen RNA-Impfungen setzten am charakteristischen Spike-Protein, an dem das Virus mutiert ist, an. Wie kann man wissen, dass die Impfungen greifen?

Erste Daten zeigen, dass Antikörper von geimpften Personen das Virus aufspüren und es binden. Die Mutationen haben einen nur geringen Einfluss auf den Prozess, in dem die Antikörper Sars-CoV-2 neutralisieren.

Was muss der Fall sein, damit die Vakzine nicht mehr funktionieren?

Grundsätzlich geben Impfungen dem Immunsystem einen Bauplan von Epitopen, das sind Zielstrukturen des Virus. Dagegen bilden B-Zellen Antikörper. T-Zellen werden instruiert, diese Zielstrukturen anzugreifen. Die Impfung beinhaltet über 1.000 Aminosäuren mit vielen verschiedenen Epitopen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Variante Mutationen in allen Epitopen sammelt, ist gering. Daher geht man  davon aus, dass sie die Antikörper-Antwort nicht massiv beeinflussen.

Frankreich sollte nach Einschätzung eines Regierungsberaters zur Eindämmung der Virusmutation seine Grenze zu Großbritannien dichtmachen. Ein sinnvoller Schritt?

Vor ein paar Wochen war die neue Variante B.1.1.7 in Dänemark in zwei Prozent der sequenzierten Propen vorhanden. Man kann davon ausgehen, dass das in anderen Ländern auch der Fall ist und dass wir möglicherweise ein gewisses Zeitfenster haben, um englische Zustände zu verhindern. Grenzschließungen sind wahrscheinlich mit ein überlegenswerter Schritt, um dieses Zeitfenster auszudehnen. Als Wissenschafter gehe ich davon aus, dass die Mutante schon da ist. Die Frage ist, ob sie sich unabhängig von Reisenden innerhalb der Bevölkerung weiter ausbreitet. Daher ist es jetzt besonders wichtig, ein engmaschiges Monitoring und die Sequenzirung von zirkulierenden Viren zu betreiben, sowie die richtigen Maßnahemn mit entsrechenden Kosten-Nutzen-Abnwägungen zu treffen, um die Ausbreitung zu verlangsamen.

Was heißt Kosten und Nutzen abzuwägen? Sollen wir alles öffnen, aber Masken auch im Freien tragen oder nur eine Person pro Tag und Haushalt zum Einkauf raus lassen?

Unter Lockdown versteht jedes Land etwas anderes. China oder auch Israel haben sehr strenge Maßnahmen durchgesetzt, die zum Beispiel auch einen verkleinerten persönlichen Bewegungsradius beinhalten. Mir scheint es vor allem wesentlich, daß die bestehenden Maßnahmen – Abstand halten, Sozialkontakte reduzieren, Masken tragen – wieder rigoros eingehalten werden. Gleichzeitig sollten die vulnerablen Bevölkerungsschichten möglichst schnell durch Impfung geschützt werden. Das zusammen wäre wahrscheinlich effektiver, als einfach nur den bekannten Babyelefanten gegen einen adoleszenten Elefanten auszutauschen. Rein gefühlsmäßig scheint der jetzige Lockdown nicht so eingreifend auf die Menschen zu wirken wie jener im Frühjahr.

Heimische Schulen könnten weiter geschlossen bleiben, die Gastronomie befürchtet ein Aufsperren nicht vor März und Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel rechnet mit einem Lockdown bis Ostern. Sie auch?

Von den Zahlen kann man keine Lockerungen ableiten. Wissenschafter können nur Hilfestellungen leisten, aber grundsätzlich würde ich erwarten, dass wir bis Ostern eine ähnliche Situation haben wie jetzt. Selbst wenn sich alle impfen lassen, wird das Virus im Herbst nicht verschwunden sein, auch zumal die Impfwilligkeit nicht zuversichtlich macht.

Es wurden noch weitere Mutanten in Südafrika und Japan nachgewiesen. Dabei hieß es anfangs, das Coronavirus sei wenig mutationsfreudig. Sind Sie so überrascht wie ich?

Sars-CoV-2 mutiert kontinuierlich und das ist nicht überraschend. Aber es überrascht, dass eine Variante so viele Mutationen gleichzeitig angehäuft hat. Vielleicht gab es nach der Fledermaus einen neuen tierischen Zwischenwirt - Covid-19 wurde ja auch in Nerzen nachgewiesen. Weil das Virus aber kontinuierlich mutiert, ist ein Verbleiben in humanen Wirten, in denen es lange replizierte und dadurch mehr Mutationen ansammeln konnte als gewöhnlich, wahrscheinlicher. Personen mit langem Verlauf oder immunsupprimierte Patienten könnten solche Wirte sein. In diesem Sinn sollte die britische Mutation ein Weckruf sein, die Maßnahmen zu befolgen.

Zur Person~