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Genie der Inszenierung

Von Peter Jungwirth

Reflexionen
Schon früh von sich überzeugt: Orson Welles, 1937.
© wikipedia/commons

Vor 100 Jahren, am 6. Mai 1915, wurde Orson Welles geboren. Als Schauspieler - u.a. in "Der dritte Mann" - und Regisseur von Filmen wie "Citizen Kane" hat er sich nachhaltig in die Geschichte des Kinos eingeschrieben.


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Warum im spanischen Ronda? Und nicht etwa in New York, in Los Angeles, in Las Vegas, in Rom - oder in Wien, unter dem Riesenrad? Orson Welles, der in all diesen Städten gelebt oder gearbeitet hat, und dem am Zenit seiner Karriere die ganze Welt Bühne war, hat mit der Wahl seiner letzten Ruhestätte ein Rätsel hinterlassen.

Ein Rätsel, von dem man allerdings nicht weiß, ob es überhaupt eines ist. Vielleicht ist es ja nur dem bloßen Zufall geschuldet, dass Welles bestimmt hat, seine Asche solle in der Geburtsstadt des modernen Stierkampfs, auf dem Anwesen eines berühmten, mit ihm - und Ernest Hemingway - befreundeten Stierkämpfers bestattet werden. Jenem Zufall, der ihn, den Globetrotter, im Alter von 18 Jahren erstmals nach Ronda geführt hat, wo er einen Sommer verbrachte. Vielleicht hat sich Welles einfach an diesen Sommer erinnert, als er die Wahl seiner letzten Ruhestätte traf.

Vielleicht hat sich Welles, der am 6. Mai 1915 in Kenosha, Wisconsin, geboren wurde, aber nicht von sentimentalen Gründen leiten lassen, sondern ein letztes, sorgfältig gewähltes symbolisches Zeichen gesetzt. Bei ihm, der zeit seines Lebens mit Wörtern akrobatisch jonglierte, wäre dies vorstellbar. Ihm, der sich im Theater, im Radio und beim Film als Genie der Inszenierung Weltruhm erworben hat, wäre es zuzutrauen. Und gerade bei ihm, der bei der Wahl der dramaturgischen Mittel wenig Skrupel hatte, liegt diese Vermutung sogar nahe.

Zeichen oder Zufall?

Nahe liegt aber auch der Verdacht, dass eine eindeutige Antwort - ob Ronda ein Zeichen ist, oder schlicht dem Zufall geschuldet - genau so schwierig zu finden sein wird, wie die Antwort auf die Frage, welche Bedeutung das letzte Wort des sterbenden Charles Foster Kane hatte.

"Rosebud" ist das enigmatische Schlüsselwort aus Orson Welles’ "Citizen Kane", seinem autobiographisch unterfütterten Filmklassiker. "Citizen Kane" war nicht der erste Film, den Orson Welles in Hollywood in Angriff nahm - ein zu ambitioniertes Projekt über Joseph Conrads "Herz des Finsternis" blieb unrealisiert -, er war nur der erste, den er fertig stellen konnte. Sein Ruf als Wunderkind, den er sich in New York als Gründer des Mercury-Theaters und mit spektakulären Radioproduktionen erarbeitet hatte, und der das kleine Filmstudio RKO veranlasst hatte, ihm die größte künstlerische Freiheit zu geben, die je ein Debütant in Hollywood hatte, war bereits ramponiert, als "Citizen Kane" im Mai 1941 endlich in die Kinos kam.

Warum der Film dort zunächst hinter den Erwartungen zurückblieb - weil das Publikum von der komplexen Erzählstruktur überfordert, die Zeit für eine Geschichte mit derart deprimierendem Inhalt ungünstig war oder weil die Medien von William Randolph Hearst den Film boykottierten -, lässt sich nicht eindeutig feststellen.

Fest steht aber, dass die USA wenige Monate später in den Zweiten Weltkrieg eintraten. Und dass man nur wenig Phantasie benötigt, um sich vorzustellen, dass für den realen Medienmagnaten Hearst der fiktive Medienmagnat Kane eine ähnliche Provokation war, wie die Japaner in Pearl Harbour für Präsident Roosevelt. Welles hatte Hearst als Hauptvorlage für Kane genommen, und sein Film war ein tollkühner, virtuos vorgetragener Frontalangriff. Ähnlich brillant, aber mit ungleich kleinerem Budget, hatte sich vor Welles vielleicht nur Karl Kraus mit den Medien angelegt. Und fest steht auch, dass "Citizen Kane" ein zeitloses Meisterwerk ist. In der von der renommierten britischen Fachzeitschrift "Sight & Sound" publizierten Liste der besten Filme aller Zeiten war der Film von 1962 bis 2002 auf Platz eins, erst 2012 verdrängte ihn Hitchcocks "Vertigo" auf Platz zwei. Ähnlich hoch eingeschätzt wird "Citizen Kane" auch in den USA und in Frankreich.

Was aber die vielen verblüffenden Parallelen zwischen Hearst und Kane anbelangt, sollte man eindeutigen Feststellungen eher misstrauen. Orson Welles hat zeitlebens auf den einen, deutlichen Unterschied zwischen den beiden Männern hingewiesen: Hearst hatte eine glückliche Kindheit; Charles Foster Kane hingegen wird sie, als er achtjährig jäh aus seiner Familie herausgerissen wird, gestohlen. Und genau dieser Unterschied kristallisiert sich am Ende des Lebens von Kane, als die Schneekugel mit der Erinnerung an seine Kindheit zerbricht, als entscheidend heraus.

"Citizen Kane" erzählt in Rückblenden das Leben eines in eine Holzhütte hineingeborenen Kindes, dessen Eltern durch eine Goldmine plötzlich vermögend werden und ihren Sohn zum Zweck der Erziehung zu einem "idealen Amerikaner" - also einem schwerreichen und berühmten Mann - einem Bankier als Vormund anvertrauen. Als junger Mann kauft Kane eine Zeitung, steigt durch eigene Ambition in die erste Gesellschaft auf, verrät aber dabei seine Ideale, verlässt seine Freunde und seine Familie, und stirbt am Ende, sagenhaft reich zwar, aber menschlich komplett gescheitert, völlig vereinsamt in seinem märchenhaften Palast.

Einfache Geschichte

Eine einfache Geschichte, scheinbar nach dem simplen Motto "Geld verdirbt den Charakter" gestrickt. Aber Orson Welles blieb nicht an der Oberfläche. Und er schwamm auch keinen Moment lang mit dem Strom. Er kombinierte, radikal wie keiner vor ihm in Hollywood, alle bis dahin bekannten Inszenierungstechniken: Die extreme Tiefenschärfe der Bilder von Kameramann Gregg Toland erlaubte Plansequenzen wie am Theater, und die extensiv eingesetzte Methode der Rückblende erschloss das Leben von Kane vom Knabenalter bis zum Sterbebett aus mehreren Perspektiven.

"Gigant des Kinos"

Aber wer war Orson Welles eigentlich? Und was ist nach seiner kurzen Karriere in Hollywood aus ihm geworden? Das sind Fragen, denen man zum 100. Geburtstag dieses "Giganten des Kinos" (so wird er im aktuellen Programm des Österreichischen Filmmuseums genannt, das in den nächsten Wochen einige Filme von Welles zeigen wird) ein kleines Stück weit nachgehen wird. Aber schon für die Auflistung all seiner Rollen in rund hundert Filmen wird der Raum nicht reichen. Und für eine tiefere Analyse seiner 13 Regiearbeiten schon gar nicht. Von all den Theater- und Hörspielproduktionen, seinen TV-Auftritten in Talkshows, Serien und auch in der Werbung ganz zu schweigen.

Es gab eine Zeit, da war Orson Welles omnipräsent - und der Terminplan des zuerst zwischen Theaterbühnen und Tonstudios in New York, dann zwischen Drehorten und TV-Studios auf der ganzen Welt hin und her eilenden Mannes berstend voll.

Ein verblüffend stimmiges Gesamtbild von Orson Welles hat Pier Paolo Pasolini 1962 mit seinem (zunächst wegen Blasphemie beschlagnahmten) Kurzfilm "La Ricotta" geliefert. Welles spielt darin den ebenso fülligen wie zynischen Regisseur eines Christus-Films, bei dem ein halbverhungerter Komparse, der sich mit einem zu gierig verschlungenen riesigen Stück Käse den Magen verdirbt, deswegen am Kreuz hängend stirbt. Welles ökonomische Situation in all den Jahren nach dem frühen Überschreiten des Zenits seiner Karriere war damit in doppelt paradoxer Weise bezeichnet: um seine eigenen Filme zu finanzieren, musste er als Schauspieler in der Welt ähnlich herumhetzen, wie der Komparse in den Hügeln Roms bei seiner steten und verzweifelten Suche nach Essbarem.

Gerissene und Mächtige

Derart am Hungertuch nagen musste Orson Welles aber auch in seinen schlechtesten Tagen nicht, und es waren auch selten die Demütigen, die Ehrlichen und die Friedliebenden, die er auf der Leinwand zu verkörpern hatte, es waren eher die Herrschsüchtigen, die Gerissenen und die Mächtigen. Und es waren Personen der Historie ebenso wie Figuren der Literatur: Er spielte Dschingis Khan und Kaiser Justinian, Kardinal Wolsey und König Louis XVIII., aber auch den Bond-Bösewicht Le Chiffre.

Von Indizien, die auf eine übertriebene Bescheidenheit von Orson Welles schließen lassen, ist jedenfalls wenig bekannt. Charakteristisch für sein Selbstverständnis ist eine Episode von einer sehr frühen Reise nach Irland: Welles, gerade 16 Jahre alt, und eben zum Vollwaisen geworden, zockelte malend mit einem Eselskarren durchs Land. Als das Geld zur Neige ging, bewarb er sich, sein wahres Alter verleugnend, am besten Theater von Dublin als "leading actor" - und wurde prompt engagiert.

Wer solche Erfolge in so jungen Jahren erzielt, sollte nicht zu hart getadelt werden, wenn sie ihm zu Kopfe steigen. Wenn allerdings als Folge der Verdacht, man sei ein Genie, chronisch wird, und dann auch noch eine Portion Herostratentum hinzukommt, wird es kritisch:

"Hier spricht Orson Welles, meine Damen und Herren, nicht mehr in der Rolle, sondern mit der Versicherung, dass The War oft the Worlds keine weitere Bedeutung hat als die einer Feiertagsunterhaltung, die es sein sollte. Es ist die Radioversion davon, wie sich das Mercury Theatre in eine Bettdecke hüllt, aus einem Busch hüpft und Buh! sagt. Wenn wir jetzt anfingen, könnten wir niemals alle Ihre Fenster einseifen und bis morgen Abend alle Ihre Gartentüren stehlen. Deswegen haben wir die zweitbeste Lösung gewählt. Wir haben die Welt vor Ihren Ohren vernichtet und dabei die CBS gründlich zerstört."

Als Harry Lime in Wien

Wie groß die kollektive Panik an diesem unvergessenen Halloween-Abend tatsächlich war, ist zwar fraglich, aber Bert Rebhandl befindet in seiner ebenso kritischen wie profunden Welles-Biographie zu Recht, dass Welles mit dieser Verabschiedung aus der Sendung "nicht maß" gehalten hatte. Wo künstlerische Freiheit endet, und Frechheit beginnt - diese Grenze hat Welles dann in "Citizen Kane" noch einmal und mit etwas feinerem Gespür ausgelotet.

Eine seiner berühmtesten Rollen, da war er schon ein Weltstar, spielte er in Wien: den amoralischen Medikamentenschmuggler Harry Lime in Carrol Reeds "The Third Man". Was Lime, während der Gondelfahrt am Riesenrad, zu seinem naiven und ehrlichen Freund Holly Martens sagt, hatte Welles selbst dem Drehbuch hinzugefügt: "Denk daran, was Mussolini gesagt hat: In den dreißig Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut, aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe, fünfhundert Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr."

Wie weit diese Worte auch auf Welles’ persönliches Credo schließen lassen, bleibe dahingestellt.

Warum also Ronda? Bloß ein belangloser Zufall? Oder doch mehr? Vielleicht eine finale Anspielung auf das berühmte letzte Wort des sterbenden Charles Foster Kane: auf Rosebud?

Literatur:Bert Rebhandl: Orson Welles. Genie im Labyrinth. Zsolnay/Kino, Wien 2005, 192 Seiten.Peter Jungwirth, geboren 1962, lebt als freier Print- und Hörfunk-Journalist in Wien.