Schwere Sozialproteste erschüttern das zerrüttete Bosnien-Herzegowina.
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Tuzla/Sarajevo. Lange hatte die Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina den Stillstand in ihrem Land geduldet. Doch nun reicht es ihr. Mit größerer Wucht als bei den Demonstrationen noch vor einem halben Jahr in Sarajevo machten die Bosnier am Freitag unmissverständlich klar, dass sie genug haben - vor allem von der politischen Führung. "Nehmt die Aasgeier fest", forderten etwa Demonstranten auf Transparenten in der Hauptstadt Sarajevo, wo kurz nach 16 Uhr das Staatspräsidium gestürmt wurde. Auch in den Städten Tuzla und in Zenica entfaltete sich der Volkszorn mit aller Kraft. Dort wurden die Gebäude der Kantonalregierung in Brand gesteckt, die dortigen Lokalkabinette traten nur kurz darauf zurück. Bei den Straßenschlachten zwischen Polizisten und Demonstranten, die eine Spur der Verwüstung hinterließen, wurden zudem mehrere hundert Menschen verletzt.
Begonnen hatten die Proteste, die mittlerweile 33 Städte erfasst haben, im nordbosnischen Tuzla, einer einst blühenden Industriestadt, die auch heute noch für ihr Salz bekannt ist. Dort drohte 10.000 Arbeitern aus vier pleitegegangenen Großbetrieben die Entlassung, das Heer der Arbeitslosen wäre damit noch weiter angewachsen. Seit Mittwoch gingen sie auf die Straße. Es brauchte nicht lange, bis sich der Arbeiterprotest in eine Demonstrationsbewegung verwandelte, die das gesamte Land erfasste.
Denn die Sozialproteste in Bosnien und Herzegowina sind ein Ausdruck dessen, was sich lange aufgestaut hatte. Seit Ende des Bürgerkriegs 1995 ist die Bevölkerung ethnisch dreigeteilt. Bosniaken (Muslime), Serben und Kroaten leben in zwei Landeshälften, der Bosniakisch-Kroatischen Föderation und der Republika Srpska. Sie haben hunderte Minister, die Verwaltung ist hochkompliziert.
Die EU als letzte Hoffnung
Der bosnische Flickenteppich ist das Ergebnis des Friedensvertrags von Dayton, auf dessen Grundlage die Republik ungeschickt regiert wird und in der sich die nationalistischen Parteien gegenseitig blockieren und den Krisenzustand prolongieren. Wichtige Gesetzesvorhaben können oft erst auf massiven Druck der Europäischen Union beschlossen werden, da die Zentralregierung in Sarajevo kaum Kompetenzen hat und im gesamtstaatlichen Parlament die Fronten regelmäßig entlang ethnischer Linien verlaufen. Fast zwei Jahrzehnte nach Dayton fällt Bosnien dadurch gesellschaftlich und wirtschaftlich immer weiter zurück: Die Arbeitslosigkeit beträgt 45 Prozent, die Korruption ist überbordend, der soziale Verfall hat die Mittelschicht aufgefressen.
Wie in der Ukraine, in der derzeit ebenfalls Unruhen herrschen, setzt die bosnische Bevölkerung alle Hoffnung auf die Europäische Union. Im Blick haben die Bosnier dabei vor allem die Nachbarländer: Kroatien ist seit 2013 EU-Mitglied, mit Serbien wurden Beitrittsverhandlungen begonnen. Doch die Union hat den bosnischen Politikern ein Ultimatum gestellt: Erst wenn in der Verfassung jene Elemente abgeändert werden, die derzeit noch eine Diskriminierung von Minderheiten ermöglichen, gibt es ein Fortkommen in Richtung Kandidatenstatus und EU-Beitrittsverhandlungen. Mit den Protesten wollen die Bosnier ihren Politikern Druck machen. Da sich die Lage nicht verbessert hat, wollen sie nun offenbar so lange weitermachen, bis die Regierenden es verstehen.