Der Wissenschafter und Politiker Eduard Suess, dessen Todestag sich im April zum hundertsten Mal jährt, erwarb sich große Verdienste um die Forschung und die Verbesserung der Wiener Infrastruktur.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Es muss um jeden Preis verhindert werden, dass das Grundwasser der Leichenhöfe unter unsere Vorstädte hereintrete." Dieser Satz aus den "Erinnerungen" von Eduard Suess bringt die Bedeutung des großen Geologen, dessen Todestag sich am 26. April zum hundertsten Mal jährt, für die Wiener auf den Punkt. Geboren wurde Eduard Carl Adolph Suess am 20. August 1831, einem Samstag, in London in Duncan Terrace 4. Sein Vater führte dort ein Wollgeschäft. Drei Jahre später übersiedelte die Familie nach Prag zu den Angehörigen seiner Mutter. Suess rückblickend: "Ich war ein sehr schlimmer Junge, und mein Vater war sehr streng . . . Wir waren ganz englische Kinder und verstanden kein deutsches Wort."
Auch in der neuen Heimat wurden Eduard und seine Geschwister weiterhin in englischer Sprache unterrichtet. Erst als Siebenjähriger begann er mit einem Hauslehrer, einem Cand. Theol., "gründlich Deutsch zu lernen". Französisch lernte er zunächst von einer "Mademoiselle", dann von einem alten Belgier. "Er war der Rest der grande armée", so Suess. Mit Sondergenehmigung wurde ihm 1840 erlaubt, das Gymnasium in Prag, das damals deutsch war, zu besuchen. Der Direktor, ein hervorragender Slawist, lehrte die Jungen im Tschechischen.
Die Revolution 1848
Die nächste Station im Leben der Familie Suess war das Wien der Ära Metternich. Hier schließt Eduard am Akademischen Gymnasium seine Schulausbildung ab und tritt als 16-Jähriger in das Polytechnikum, die nunmehrige Technische Universität, ein. Suess wird Zeuge und Teilnehmer der Märzrevolution des Jahres 1848. "Ein unbeschreibliches Gefühl, von Freiheit und von Vaterlandsliebe, von Begeisterung und von Todesmut durchglühte uns . . ."
Seit 12. Juni 1855 war er mit Hermine (geb. Strauß, Nichte Paul Partschs, Vorstand des k. k. Mineralogischen Hof-Cabinets und Vorgesetzter von Suess) verheiratet. "Seinen Kindern war er das Ideal eines Vaters", erinnert sich der jüngste Sohn Erhard (1871- 1937). Dieser hatte vier Brüder: Adolf (1859-1916), Hermann (1864-1920), Otto (1869-1941) und Franz Eduard (1867-1941) - letzterer wurde als Geologe bekannt - und zwei Schwestern; Paula Aloisia (1861-1921), sie war mit dem Paläontologen Melchior Neumayr (1845-1890) verheiratet, und Sabine (1859-1868), die als Kind verstarb.
Im Hinblick auf den Verlauf der Suess’schen Karriere war er - so würde man heute sagen - "zur richtigen Zeit am richtigen Ort". Nach der Revolution und dem Ende der Ära Metternich setzte im befreiten Wien ein großer Entwicklungsschub ein. In diesem anfänglichen Vakuum konnten junge Talente wie Suess rasch reüssieren.
Institutionen wie das
"k. k. Mineralogische Hof-Cabinet", Vorläuferinstitution des Naturhistorischen Museums in Wien, wo Suess am 15. Mai 1852 seinen Diensteid als Assistent ablegte und bis 1862 arbeitete, oder die "k. k. Geologische Reichsanstalt" bildeten den institutionellen Rahmen, lange vor der Gründung fachspezifischer Universitätsinstitute, wo auch wieder der Name Suess zu nennen sein wird. Mit nicht einmal 26 Jahren ernannte ihn Kaiser Franz Joseph I. am 10. August 1857 zum außerordentlichen Universitätsprofessor für Paläontologie an der Universität Wien, ohne dass Suess ein Doktorat oder eine Habilitation besaß. 1867 wird er Ordinarius für Geologie und 1888/1889 Rektor an der 1365 begründeten "Alma Mater Rudolphina Vindobonensis".
Parallel dazu entwickelt sich seine Karriere an der Akademie der Wissenschaften. Als 29-Jähriger wird er 1860 korrespondierendes Mitglied, und 1867, im Jahr seiner ordentlichen Professur, wird er als wirkliches Mitglied aufgenommen. Ab 1885 ist er Sekretär der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse, ab 1891 Generalsekretär, ab 1893 Vizepräsident, und mit seiner Präsidentschaft von 1898 bis 1911 gehört er zu jenen, die am längsten die Geschicke der Gelehrtenvereinigung lenkten.
Hier machte er sich unter anderem um die Kooperation der Akademien von Wien, München, Leipzig, Göttingen und Preußen verdient, sowie um eine internationale Assoziation von Akademien aus Europa und den USA. Die Gründung des ersten Phonogrammarchivs Europas 1899 fällt ebenso in seine Ära wie die Etablierung des Instituts für Radiumforschung im Jahre 1909.
1862 erschien sein erstes Schlüsselwerk: "Der Boden der Stadt Wien", mit dem bezeichnenden Zusatz "nach seiner Bildungsweise, Beschaffenheit und seinen Beziehungen zum bürgerlichen Leben". Er selbst bezeichnete es in der für ihn typischen Bescheidenheit als "geologische Studie"; heute muss das 326 Seiten dicke Buch mit geologischer Karte als Beginn der "Stadtgeologie", einer im 21. Jahrhundert wichtigen Disziplin der Geowissenschaften, bezeichnet werden.
Wasserversorgung
Suess dachte interdisziplinär. Aufgrund seiner Beobachtung, dass die Leichenwässer der höher gelegenen Friedhöfe direkt in die darunter liegenden Hausbrunnen sickerten, verlangte er die Auflassung der innerstädtischen Friedhöfe. Prompt wurde Suess von Bürgermeister Andreas Zelinka (1802-1868) in die städtische Wasserversorgungskommission berufen und kurz darauf in den Wiener Gemeinderat gewählt. Mit der Eröffnung der "Ersten Wiener Hochquellenwasserleitung" am 24. Oktober 1873 ging Suess in die Geschichtsbücher ein.
Suess agierte an zwei Fronten: Zum einen als Geologe auf fachlicher Ebene, zum anderen als Politiker, der für die Realisierung seiner Ideen kämpfte. Ein blendender Rhetoriker, setzte er auf sachlich begründete Informationen bei Entscheidungsträgern.
So publizierte er 1862 mehrteilige Artikel zur Wiener Wasserversorgung in der "Wiener Medizinischen Wochenschrift", wie auch in der "Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und öffentliches Leben" - einer Beilage der "Wiener Zeitung".
Nach "Der Boden der Stadt Wien" stellt Suess 1875 "Die Entstehung der Alpen", sein zweites Schlüsselwerk, fertig. Hier nennt er nicht nur seitlich wirksame Kräfte für den Gebirgsbau, sondern geht einen Schritt weiter und unterscheidet beim Bau der Erde drei "Hüllen", die er wie folgt benennt: "Die erste ist die Atmosphäre, die zweite die Hy-drosphäre, die dritte die Lithosphäre." Ausgehend von dieser Dreiteilung folgert er: " . . . und es lässt sich auf der Oberfläche des Festen eine selbständige Biosphäre unterscheiden."
Sätze wie diese zeigen die Gedankenwelt des Forschers. Ausgehend von Details entwickelte er seine Ideen und erschloss damit neue Perspektiven. Die publizierten Konzepte stellen gleichsam den Grundstein zu seinem Opus Magnum dar, dem "Antlitz der Erde", dessen erster Band 1883 erschien. Der zweite Teil des dritten Bandes erschien 1909; Übersetzungen ins Englische, Französische und Italienische machten dieses Werk zu einem Meilenstein der Geologie - bis in unsere Tage.
Gewaltige Arbeitskraft
Einmal mehr stellt sich die Frage, wie konnte ein Mensch, den man heute wohl als Workaholic bezeichnen würde, all das schaffen? Suess, der viele Jahre im zweiten Wiener Gemeindebezirk, in der Afrikanergasse 9, nahe des Praters wohnte, wo er am 26. April 1914 verstarb, hatte einen straffen Tagesablauf. Dazu sein Biograph, Wladimir A. Obrutschew: "Der unglaubliche Arbeitseifer Sueß’ verband sich mit der Fähigkeit, striktestens die Zeit zu nutzen. Er stand um 6:30 h auf und machte sich eine Stunde später, ausnahmslos zu Fuß, auf zur Universität, wo er von acht bis neun Uhr seine Vorlesungen hielt. Sogar in der Periode angestrengter politischer Tätigkeit nahm er keinen Forschungsurlaub in Anspruch.
Die Vormittagsstunden wendete er für die Arbeit in der Akademie, im Parlament oder im Landtag auf. Nach einem kurzen Nachmittagsschläfchen begab sich Sueß gewöhnlich für einen einstündigen Spaziergang in die Prater-auen, die unweit seiner Wohnung lagen, und danach widmete er den ganzen Abend, nicht selten bis zwei Uhr in der Nacht, seiner wissenschaftlichen Arbeit oder der Vorbereitung von Reden und Vorlesungen, wenn er nicht gerade mit Sitzungen von wissenschaftlichen Gesellschaften, im Parlament oder Landtag beschäftigt war."
Als liberaler Politiker engagierte er sich u.a. für Schule und Bildung. Bereits 1863 wurde er in den Wiener Gemeinderat gewählt, aus dem er 1873 freiwillig ausschied. Ab 1869 war er auch im Niederösterreichischen Landtag tätig, unter anderem als Landesschulinspektor. Mit der Wahl - 631 Stimmen pro Suess, 59 Stimmen contra Suess - zum Abgeordneten in den Reichstag, wo er am 4. November 1873 angelobt wurde und bis 1897 blieb, erfuhr seine politische Karriere eine weitere Steigerung.
Wissensvermittlung
Dieses Anliegen ist eine - so scheint es - bisher noch (zu) wenig beachtete Facette im Leben von Suess. Am 15. Jänner 1860 fand in Wien die konstituierende Sitzung des "Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse" statt, der übrigens heute noch existiert. Der erste Präsident hieß Eduard Suess. Wenig bekannt ist auch, dass er sich für die Errichtung einer "Berg-Akademie" in Wien nach Leobener Vorbild einsetzte. Dieses Ansinnen wurde ebenso wenig von ministerieller Stelle unterstützt wie die von ihm und Friedrich Brauer im Jahr 1878 vorgebrachte Forderung der Schaffung einer eigenen mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Wien. Angesichts der Tatsache, dass die Abspaltung der naturwissenschaftlichen von der philosophischen Fakultät erst 1975 (!) erfolgte, war Suess seiner Zeit fast 100 Jahre voraus.
Dass er selbst ganz entscheidend den Fortschritt der Naturwissenschaften, allen voran der Geowissenschaften, mit geprägt hatte, verschwieg Suess bescheiden. Auch im Bereich der Infrastruktur und des Verkehrswesens, des Städtebaus und der Architektur waren diese Dekaden derart prägend, dass sie noch heute maßgeblich den Alltag bestimmen. Auch hier war das Suess’sche Wirken nachhaltig: So deckt die von ihm initiierte, am 24. Oktober 1873 eröffnete Hochquellenwasserleitung 40 Prozent des Wiener Wasserbedarfs im 21. Jahrhundert ab.
Thomas Hofmann, geboren 1964, ist Leiter von Bibliothek, Archiv und Verlag der Geologischen Bundesanstalt in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen (geologische und regionale Themen).
Suess zu Ehren
Mittwoch, 23. April, 18:30 Uhr: Naturhistorisches Museum Wien, Vortrag von Thomas Hofmann: "Eduard Suess: ›Ich war ein sehr schlimmer Junge‹".
Donnerstag, 24. April, 18:00 Uhr: Wiener Rathaus, Festsaal, Wiener Vorlesung und Podiumsdiskussion: "Eduard Suess, innovativer Forscher und Politiker – Bedeutung für Wien". Daniela Angetter, Hans Sailer, Johannes Seidl. Moderation: Hubert Christian Ehalt.
Freitag, 25. April, 14:00– 19:00 Uhr: Institut für Geschichte Universität Wien. Festveranstaltung: "Eduard Suess (1831-1914) Politik – Wissenschaft – Verantwortung". Mit Vorträgen von Karl Vocelka, Andrea Westermann, Marianne Klemun.
Buchhinweis: Thomas Hofmann, Günter Blöschl, Lois Lammerhuber, Werner E. Piller, A.M. Celâl Sengör: The Face of the Earth – The Legacy of Eduard Suess. Edition Lammerhuber, Baden 2014, 104 Seiten, 60 Fotos, 29,90 Euro.