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Geopolitisch ist keine Ruhe in Sicht

Von Walter Feichtinger

Gastkommentare

2021 war ein Jahr mit dramatischen Entwicklungen, die sich 2022 fortsetzen werden.


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Die Welt blickt gebannt auf die Entwicklungen um die Ukraine in Erwartung eines militärischen Showdowns durch Russland. Das hat sich allerdings schon im Vorjahr abgezeichnet und war nur eine von mehreren folgenschweren Entwicklungen, die uns auch heuer noch intensiv beschäftigen werden. Mehrere Ereignisse stechen dabei aus europäischer Perspektive besonders ins Auge.

Der Sturm auf das US-Kapitol und seine Folgen für die USA

Das Jahr 2021 begann mit einem dramatischen Auftakt: dem Sturm auf das US-Kapitol. Ein aufgebrachter Mob wollte damit den Amtsantritt von Joe Biden mit Gewalt verhindern. Tragisch für die USA, aber auch für alle anderen Demokratien. Denn die Bilder gingen blitzartig um die Welt und waren Wasser auf die Mühlen derer, die den Abstieg der USA prophezeien und die Überlegenheit autoritärer Systeme betonen.

Somit wurde aus einem eigentlich innenpolitischen Problem ein globalpolitisches. Denn die USA und China streben danach, die Staatengemeinschaft zunehmend in eine demokratische und eine autoritäre Einflusssphäre zu teilen. Die Klassifizierung als Demokratie oder Autokratie wird dabei zu einem zentralen Selektionskriterium, das der Allianzbildung dienen soll.

Mit der Einladung von 110 Staaten zu einem Gipfel der Demokratien sorgte Präsident Biden Ende 2021 für Aufmerksamkeit und Verstimmung. Die systemische Rivalität hat damit Einzug in die internationalen Beziehungen gehalten. Bereits zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 begann sich dieser Trend zu manifestieren, wenn es um Schuldzuweisungen ging oder darum, sich als der effektivere Bekämpfer und Helfer in der Not zu präsentieren.

China, Hongkong und Taiwan

Das US-Drama und die entstehende Bipolarität hatten auch starke geopolitische Implikationen und überschatteten die Entwicklungen im Südchinesischen Meer. In Hongkong haben Repressionen gegenüber der Protestbewegung, eine Änderung des Wahlgesetzes sowie wirtschaftlicher Druck der Vision von "Ein Land - zwei Systeme" ein abruptes Ende bereitet.

Die De-facto-Machtübernahme durch Peking in der widerspenstigen Sonderverwaltungszone hat international keinen nennenswerten Widerstand mehr hervorgerufen. Denn die Aufmerksamkeit galt bereits Taiwan, das Festland-China als "abtrünnige Provinz" einstuft und möglichst rasch eingliedern möchte. Viele Beobachter sehen dabei die Ereignisse um Hongkong als Auftakt und Generalprobe für Taiwan.

Klare Vorboten sind schon erkennbar. China übt zunehmend politischen wie wirtschaftlichen Druck auf Taiwan und dessen Partner aus und lässt vermehrt Militärjets in den taiwanischen Luftraum vorstoßen. Durch diese permanente Drohkulisse sollen vermutlich die Regierung in Taipeh zermürbt und potenzielle Unterstützer abgeschreckt werden.

Das Chaos beim Abzug aus Afghanistan

Mit dem überhasteten Abzug der USA aus Afghanistan folgte im Sommer 2021 ein weiteres Ereignis, das für geopolitische Verwirrung sorgte. Obwohl der Rückzug bereits vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Februar 2020 mit den Taliban ausverhandelt worden war, gestaltete sich der Abgang chaotisch. Der rasante Vormarsch der Taliban und die Kapitulation der afghanischen Regierung inklusive Sicherheitskräfte bescherten US-Präsident Biden ein Imagedesaster und den Verlust einer geostrategischen Basis.

China und Russland, aber auch der Iran und Pakistan sehen sich nun vorerst als Gewinner, weil der Erzrivale USA das Feld räumen musste. Allerdings hängt die weitere Entwicklung und damit auch die Sicherheit in der Region davon ab, ob das Taliban-Regime für Ordnung sorgen sowie das Entstehen von sicheren Häfen für Extremisten und Terroristen verhindern kann.

Die Atomgespräche mit dem Iran

Von ähnlicher Tragweite sind auch die im April gestarteten Verhandlungen zur Wiederaufnahme der Atomgespräche mit dem Iran. Geht es beim "Joint Comprehensive Plan of Action" (so der technische Ausdruck) doch letztlich darum, ob der Iran atomwaffenfähiges Uran produzieren kann oder nicht. Eine Horrorvorstellung nicht nur für Israel und Saudi-Arabien, sondern für die gesamte Region. Allein der Verdacht, der Iran verfüge über Atomwaffen, würde zu einem nuklearen Wettrüsten im Mittleren Osten führen.

Trotz des Regierungswechsels in Teheran dürfte das Interesse an einem Abkommen weiter vorhanden sein. Ähnlich sehen es wohl auch die USA, die sich nach dem Rückzug unter Präsident Trump 2018 nun wieder an den Gesprächen beteiligen. Damit sind die Erfolgsaussichten gestiegen, selbst wenn die größten Differenzen zwischen dem Iran und den USA bestehen. Ein großer Wurf ist eher nicht zu erwarten, doch fortgesetzte Gespräche könnten einen Ausweg bieten.

Wladimir Putins völlig überzogene Forderungen

Die größte Aufmerksamkeit erregte jedoch der russische Aufmarsch an der ukrainischen Grenze. Über Monate hinweg ließ der Kreml militärische Truppen und Kampfgerät an seine Westgrenze verlegen. Ende 2021 sollen es bereits 100.000 Soldaten gewesen sein. Doch erst um den Jahreswechsel ließ Präsident Wladimir Putin die Katze aus dem Sack und präsentierte den USA seine Forderungen. Er stellte zum wiederholten Male klar, dass sich Russland bedroht fühle, und verlangte de facto die Wiederherstellung des geopolitischen Ordnungszustands von 1997 (keine Nato-Osterweiterung).

Abgesehen davon, dass diese Vorgangsweise mehr einer politischen Erpressung als einem Verhandlungsangebot gleicht, sind die meisten Forderungen per se völlig überzogen und entsprechen nicht den internationalen Gepflogenheiten und dem Völkerrecht. Das weiß auch der Kreml - warum dann dieses Schauspiel?

Jedenfalls ist es Putin gelungen, die USA, Europa und die Ukraine wachzurütteln und sich ins internationale Rampenlicht zu rücken. Er pokert dabei sehr hoch, denn im Falle seines militärischen Einschreitens würde er die letzten Zweifler oder Zögerer ins Lager der Nato treiben. In Finnland und Schweden hat diese Debatte bereits eingesetzt.

Es ist wohl an der Zeit, mit Russland in einen ernsthaften politischen, vor allem sicherheitspolitischen Dialog zu treten. Allerdings bleibt sein aggressives Vorgehen - siehe Einmarsch in Südossetien 2008, Annexion der Krim 2014 und Unterstützung der Separatisten im Donbass - absolut inakzeptabel. Ein Gesprächsangebot darf daher keine Pardonierung oder Anerkennung dieser militärisch dominierten Außenpolitik bedeuten. Gespräche sollten in Ruhe und Abgeschiedenheit geführt werden, statt einseitig Botschaften via Konferenzen oder Interviews zu senden.

Sezessionsbestrebungen der bosnischen Serben

Weniger eindrucksvoll, doch von erheblicher politischer Sprengkraft sind serbische Sezessionsbestrebungen in Bosnien-Herzegowina. Es ist bekannt, dass der Repräsentant der Entität Republika Srpska das Friedensabkommen von Dayton ablehnt, den Gesamtstaat auflösen und die Republika Srpska Serbien anschließen möchte. Ende 2021 ging man in der Republika Srpska jedoch weiter und beschloss den Austritt aus staatlichen Institutionen: Die Teilrepublik soll sich binnen sechs Monaten aus Armee, Justiz und Steuersystem zurückziehen.

Ohne in Alarmismus zu verfallen - damit würde eine rote Linie überschritten. Das könnte nicht nur zum Zerfall des Gesamtstaates Bosnien-Herzegowina führen, sondern auch Friedensbemühungen hinsichtlich Kosovo in hohem Maße gefährden. Der europäische Integrationsprozess gestaltet sich auf dem Westbalkan ohnehin als äußerst mühsam und langwierig. Daher dürfen kritische Entwicklungen nicht übersehen oder negiert werden, weil sie enorme Rückschläge bewirken können.

Das politische Klima ist frostiger geworden

Was schon 2021 bestimmend war, wird sich fortsetzen. So dürfte sich an der Rivalität zwischen den USA und China nicht allzu viel ändern. Das sollte sich insbesondere im Indo-Pazifik und bei den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zeigen. Aber vorerst richten sich alle Blicke auf das Vorgehen Russlands. Kommt es zu einer akzeptablen Verhandlungslösung oder setzt Putin doch auf die militärische Karte - mit desaströsen Folgen für alle Beteiligten? Darüber sollte man in wenigen Wochen oder vielleicht auch Monaten mehr Klarheit haben.

Ähnlich verhält es sich bei den Atomgesprächen mit dem Iran. Der russische Vertreter hält einen Abschluss noch im ersten Quartal für möglich. Ein positives Ergebnis könnte wesentlich zur Beruhigung und Entspannung im Mittleren Osten beitragen. Der kalte Winter stellt die afghanische Bevölkerung und das Taliban-Regime bereits auf eine harte Probe. Dabei wird sich zeigen, ob die Machthaber das Überleben der Menschen, Sicherheit und Stabilität gewährleisten können oder sich Nachbarn genötigt sehen, einzugreifen. In Bosnien-Herzegowina dürfte auf internationaler Seite die Brisanz der Entwicklung erkannt worden sein - aber das ist keine Garantie für eine nachhaltige Lösung.

Als Resümee könnte man sagen, dass zwar die globale Erderwärmung zunimmt, das politische Klima aber frostiger geworden ist. Daher wäre es wichtig, dass der Erwärmung im Frühling auch ein politisches Tauwetter folgt.