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Geopolitische Zwänge übertrumpfen die wirtschaftliche Logik

Von Kim Catechis

Gastkommentare
Kim Catechis ist Investment-Stratege beim Franklin Templeton Institut.
© Franklin Templeton / Graham Flack

In der globalen Zeitenwende könnten Mexiko und Indonesien ebenso zu den Gewinnern zählen wie Rüstungsunternehmen.


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Geopolitische Spannungen scheinen sich nur sehr langsam zu entwickeln und haben kaum unmittelbare Auswirkungen auf die Kapitalmärkte. Diese Ansicht schien bis vor etwa einem Jahrzehnt gerechtfertigt. Die Realität sieht so aus, dass die Rivalitäten zwischen den Großmächten, die zu einer Eskalation des geopolitischen Drucks führen, ebenso wie der Klimawandel inzwischen unmittelbar, direkt und global sind, aber in ihrer Intensität ungleichmäßig. Geopolitische Erwägungen beeinflussen die Anlagerenditen sowohl direkt als auch indirekt über ihren Einfluss auf die politische Richtung in den betroffenen Ländern.

Die politische Richtung wiederum bestimmt den Kurs der wirtschaftlichen Entwicklung. In der Vergangenheit haben die Regierungen versucht, ihre Volkswirtschaften vor der "Strafe" zu schützen, die sich aus der Aggression großer Handelspartner ergibt. Dieser Ansatz wird zunehmend als überholt und unhaltbar empfunden. Die Akzeptanz der neuen Situation zeigt sich in der Politik der Regierungen - Sanktionen, Handelsschranken, Zölle und Abbau kultureller und diplomatischer Verbindungen -, die den Kapitaltransfer erschweren und die Freizügigkeit zwischen den Ländern einschränken. All diese Maßnahmen schränken die Unternehmen des Privatsektors ein und begrenzen letztlich das Gewinnwachstumspotenzial. Geopolitische Zwänge übertrumpfen die wirtschaftliche Logik. Was sind die Schlussfolgerungen daraus?

Neukalibrierung der Lieferketten

In diesem Umfeld glauben wir, dass eine Gruppe von Gewinnern diejenigen Länder sein werden, die von der Neukalibrierung der Lieferketten profitieren könnten. Dazu zählen etablierte Länder wie Mexiko, wo die Lohnstückkosten relativ niedrig sind, die Verkehrsinfrastruktur gut ist und es einen großen Pool an erfahrenen Maquiladora-Arbeitskräften sowie agile Unternehmen gibt, die sich schnell an die Anforderungen anpassen können.

Ebenfalls dazu gehören Länder, die einen bedeutenden Zugang zu bestimmten Rohstoffen haben, die für Halbleiter oder Batterien für Elektrofahrzeuge wichtig sind, und die in der Lage sind, eine stabile Basis für die Herstellung oder die Verarbeitung zu bieten. Auch Mexiko profitiert hier, da es über wertvolle Ressourcen verfügt. Das United States Government Accountability Office hat eine Liste "kritischer" Mineralien zusammengestellt. Bei 14 dieser Mineralien gehört Mexiko zu den drei wichtigsten Lieferanten und hat das Potenzial, weitere zu liefern, zum Beispiel Lithium (Batterien), Wismut (Pharmazeutika), Graphit (Halbleiter), Blei und Selen - die letzten drei sind besonders wertvoll, da sie Lieferungen aus China ersetzen können.

Ein weiterer offensichtlicher Anwärter auf der Gewinnerseite wäre Indonesien, das den zusätzlichen Vorteil eines bedeutenden Verbrauchermarktes und einer strategischen Lage im Verband Südostasiatischer Nationen (Asean) hat. Indonesien hat eine zusätzliche Anziehungskraft für ausländische Investoren - es hat mit 275 Millionen Einwohnern die viertgrößte Bevölkerung der Welt. Allein Jakarta hat 10,6 Millionen Einwohner und ist für ausländische Direktinvestitionen attraktiv, da der Verbrauchermarkt schnell wächst. Darüber hinaus macht die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen fast 16 Prozent der Bevölkerung aus, sodass es eine demografische Dividende gibt.

Defizite bei spezialisierten Infrastrukturen beheben

Auf Unternehmens- und Sektorebene sind jene Unternehmen, die bestehende und vorrangige Defizite bei spezialisierten Infrastrukturen beheben können, eindeutig in einer privilegierten Position, etwa durch den Bau von LNG-Terminals und Kurzstrecken-Pipelines oder die Modernisierung von Industriemaschinen zur Steigerung der Energieeffizienz. Zusammen mit dieser Gruppe sind sie die Enabler oder Nutznießer einer Beschleunigung der grünen Energiewende. Gemeinsam könnten diese Unternehmen das Wirtschaftswachstum ankurbeln und die Basis für längerfristige Struktur- und Produktivitätsverbesserungen schaffen.

In jedem Fall werden die Rüstungsunternehmen im kommenden Jahrzehnt davon profitieren. Das liegt zum Teil an den Lehren aus dem Russland-Ukraine-Krieg. In großen Landkriegen werden enorme Mengen an normaler Munition verbraucht, und der Einsatz von relativ "dummer" Munition oder einfachen Drohnen kann immer noch sehr effektiv sein. Diese Wirksamkeit liegt zum Teil in ihrer Zerstörungskraft, aber auch in den wirtschaftlichen Aspekten des Krieges. Eine effektive Flugabwehr- und Raketenabwehrbatterie verwendet extrem teure Munition, um sehr billige Drohnen zu stoppen.

All dies hat Auswirkungen darauf, wie der Beschaffungs- und Planungsprozess der Nato organisiert ist und wie Kriege in Zukunft wahrscheinlich geführt werden. Und für die am militärisch-industriellen Komplex beteiligten Unternehmen wird die oberste Priorität wahrscheinlich darin bestehen, in Kapazitätserweiterungen zu investieren, was noch mehr Spielraum für ein Umsatzwachstum im Teilsektor der Spezialtechnik bietet.

Bei den Rohstoffen sind die eindeutigen Nutznießer die "guten" Produzenten, da ihr Kundenstamm mehr als 60 Prozent des weltweiten BIP ausmacht. Es ist jedoch möglich, dass einige "neutrale" Produzenten zu den "guten" Produzenten abwandern, um vom geringeren Wettbewerbsdruck zu profitieren, da die "schlechten" Produzenten von lukrativen Märkten ausgeschlossen werden.

Mehr Schulden erhöhen Inflationsdruck

Die Inflation hat der Emission von Schuldtiteln eine vorübergehende Obergrenze gesetzt, da die Zinskosten schnell gestiegen sind. Der weltweite Schuldenberg belief sich im dritten Quartal 2022 auf rund 294 Billionen US-Dollar, was einer BIP-Quote von schätzungsweise 343 Prozent entspricht. Dennoch dürfte die Emission von Schuldtiteln in heurigen Jahr wieder ansteigen, da die Regierungen versuchen, eine wachstumsfördernde Politik umzusetzen und die Investitionen in die Verteidigung anzukurbeln sowie die höheren Zinskosten in den Griff zu bekommen. Für viele stellt die Währungsschwäche zusätzlichen Gegenwind dar.

Das traditionelle Tabu hoher Schuldenquoten ist nur für die Länder relevant, die sich nicht leicht refinanzieren können. Japan kann eine Quote von 250 Prozent des BIP verkraften, die USA könnten bis zu 150 Prozent erreichen und so weiter. Der springende Punkt ist, dass die Länder mit hohen Einkommen besser in der Lage sein werden, die Kosten für den Schuldenausgleich zu tragen und weiterhin einen Markt für die Emission von Anleihen zu finden. Diese Entwicklung führt zwangsläufig zu einer stärkeren Polarisierung zwischen Ländern mit hohen Einkommen und Ländern mit niedrigen Einkommen.

In den Entwicklungsländern ist die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP tendenziell niedriger als in der Vergangenheit. So entfällt in China mit 159 Prozent des BIP der Großteil der Schulden auf den Sektor der Nicht-Finanzunternehmen, während die entsprechende Quote in Indonesien bei relativ bescheidenen 24 Prozent liegt. Der Druck ist in allen Ländern mit niedrigen Einkommen, wie Sri Lanka und Sambia, zu spüren. Laut Weltbank "könnte sich ein Dutzend Entwicklungsländer als unfähig erweisen, ihre Schulden zu bedienen".

Die Zahl der Nato-Mitglieder nimmt zu, wobei das neutrale Schweden und Finnland bald beitreten werden, und eine engagierte politische Klasse setzt sich dafür ein, mindestens 2 Prozent des BIP für die Verteidigung aufzuwenden. Dies ist nicht möglich, ohne erhebliche Schulden zu machen, und angesichts der geringen Produktionskapazitäten des militärisch-industriellen Komplexes auf beiden Seiten des Atlantiks wird dies wahrscheinlich zu einer Inflation führen.

Wenn man dann noch den Turboantrieb zur Beschleunigung der Umstellung auf umweltfreundliche Energien und die Welle von Investitionen der Industrieunternehmen zur Modernisierung von Industrieanlagen hinzunimmt, sehen wir für das nächste Jahrzehnt eine Reihe von Inflationswellen, die die Gültigkeit der historischen Inflationsziele von 2 Prozent in Frage zu stellen scheinen. In der Praxis spielt es keine große Rolle, ob es 3 Prozent oder 4 Prozent sind, die Märkte werden sich entsprechend anpassen. Womit die Märkte zu kämpfen haben werden, ist die Volatilität der Inflation und folglich der Zinssätze.

Ende der ungebremsten Globalisierung

Aus unserer Sicht scheinen die guten Zeiten der ungebremsten Globalisierung und des Zusammenwachsens der Volkswirtschaften auf einem höheren Wachstumspfad zu Ende gehen, da nationale Sicherheitsinteressen und Ideologie nun Vorrang vor wirtschaftlicher Logik haben. Das Ergebnis ist eine zersplitterte Welt mit Handelsschranken und zunehmend regionalisierten Handelszonen, die durch Ideologie, geopolitische Ausrichtung und vermeintliche nationale Sicherheitserwägungen gestützt werden.

Notwendig ist eine massive Umschichtung von Ressourcen, was positive Realzinsen voraussetzt. Der Grund dafür ist, dass sowohl die Regierungen als auch der private Sektor so viele Emissionen tätigen werden, dass es einen Wettbewerb um die Gelder der Anleger geben wird. Die traditionellen Quellen langfristiger Ersparnisse könnten im Laufe der Zeit beschnitten oder sogar reduziert werden, da die arbeitende Bevölkerung in den meisten Ländern mit hohem Einkommen schrumpft und ihre Sozialkosten steigen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Nationale Rentendienst in Südkorea, der aufgrund der alternden Bevölkerung des Landes bis 2055 kein Geld mehr haben wird. In den meisten westlichen Ländern werden die staatlichen Eingriffe zunehmen - nicht immer effizient oder gar sinnvoll.

Kurzfristig scheinen sich die Vermögenspreise allgemein nach unten korrigiert zu haben, und es herrscht Optimismus hinsichtlich des Wirtschaftswachstums. Festverzinsliche Anlagen sind wieder attraktiv, aber die Aktienmärkte müssen möglicherweise die Erwartungen an das Gewinnwachstum dämpfen, und die Inflation könnte mehrere Jahre lang über dem traditionellen Ziel von 2 Prozent liegen.

Wir befinden uns also an einer globalen Zeitwende, deren Auswirkungen von strukturell höheren Schulden, Inflation und Zinssätzen bis hin zu der Forderung nach höheren Anlagerenditen in einer Zeit des wirtschaftlichen Auseinanderbrechens der Welt reichen. In diesem Szenario ist jede Anlageentscheidung mit impliziten Faktorgewichtungen belastet, die derzeit nicht zum Mainstream gehören.