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Georg Ratzinger

Von Stefan Beig

Reflexionen

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Wiener Zeitung:Herr Prälat Ratzinger, es ist allgemein bekannt, dass Ihr Bruder früher in Österreich oft Urlaub gemacht hat. Kommen Sie auch gerne hier her?Georg Ratzinger: Unsere Familie hat Österreich immer gerne gehabt - und ich bin immer gerne gekommen. Ein erster Grund ist, dass es keine sprachlichen Probleme gibt. Hier kann man sich notfalls sogar mit dem bayrischen Dialekt durchschlagen. Außerdem ist Österreich irgendwie geistesverwandt, etwa in künstlerischer Hinsicht: Barock, Rokoko, aber auch Gotik sind in diesem Land genauso zu Hause wie bei uns in Bayern. Und das Musikverständnis ist auch annähernd dasselbe. Gleiches gilt für den Menschenschlag: Der Norddeutsche hat einen anderen Charakter, reagiert und spricht anders. Bayern und Österreicher hingegen verbindet eine gemeinsame Wesensart: diese südliche Art, gekennzeichnet durch eine gewisse Menschlichkeit und viel Rücksicht auf den Anderen.

Sie werden oft als Bruder des Papstes vorgestellt. Stört Sie das, oder sind Sie stolz darauf, dass Ihr jüngerer Bruder Papst ist?

Da denke ich an den Hugo Rahner, der immer gefragt wurde: Sind Sie der Bruder des berühmten Rahner ( Karl Rahner, der ebenso wie sein Bruder Theologe war, Anm. )? Darauf antwortete der immer: Nein, das bin ich. Wilhelm Kempff wiederum, der weltberühmte Pianist, hatte einen Bruder, der Universitätsmusikdirektor in Erlangen war. Wenn man den Universitätsmusikdirektor von Erlangen fragte, ob er der Bruder des berühmten Kempff sei, war er beleidigt. Ich bin nicht beleidigt. Aber viele Leute sagen zu mir: Sie sind doch auch "einer". Sie sind nicht nur Bruder, sondern auch "jemand".

Ein Vatikan-Journalist hat Ihren Bruder einmal als "Bücher-Ratz" und Sie als "Orgel-Ratz" beschrieben. Würden Sie dieser Einordnung zustimmen? Was sind die Gemeinsamkeiten und was die Unterschiede, die die beiden Ratzinger-Brüder ausmachen?

Diese Bezeichnung stimmt schon in gewisser Weise. Mein Bruder war immer sehr mit Büchern befasst. Ich hatte durch meine musikalische Arbeit weniger Zeit für Bücher.

Es gab drei Geschwister. Wie darf man sich Ihre Schwester Maria vorstellen, die ja bereits 1991 verstorben ist?

Die war sehr bescheiden und immer eine sehr gute Schülerin. Sie ist eher in der Sorte "Bücher-Ratzi" einzuordnen.

Sie haben gemeinsam mit Papst Benedikt XVI. die Priesterweihe in Freising empfangen. Als Ihr Bruder 1977 zum Erzbischof von München und Freising geweiht wurde, haben Sie die Regensburger Domspatzen dirigiert. Wie sehr prägen diese engen Verbindungen Ihre Brüderlichkeit? Beraten Sie sich auch gegenseitig?

Ja, wir beraten uns gegenseitig und tauschen uns auch aus. Ich muss gestehen, dass wir weitgehend die gleichen Urteile fällen. Die Geschmäcker sind natürlich etwas verschieden, es gibt gewisse Nuancen, aber die Grundmaßstäbe sind die gleichen.

Es wurde mehrfach öffentlich behauptet, Ihr Bruder habe sich in der nachkonziliaren Zeit vom jungen, progressiven Theologen zum strengen Glaubenshüter gewandelt. Hat die nachkonziliare Krise die Ansichten Ihres Bruders verändert?

Die Ansichten meines Brudes waren - glaube ich - immer dieselben. Ein Unterschied besteht in der Sichtweise auf gewisse Themen. In unserer Jugendzeit hat man theologisch alles vom schon lange Bestehenden her beurteilt und nicht auf jüngere Entwicklungen geachtet. Jetzt sieht man nur das, was anders ist oder was anders werden soll. Ich glaube eher, die Zeit hat sich geändert, nicht mein Bruder.

Ihr Bruder stand als Theologieprofessor und später als Kardinal häufig im Zentrum von, teils heftigen, innerkirchlichen Auseinandersetzungen. Haben Sie das persönlich in Ihrem Umfeld auch zu spüren bekommen?

Ich war in einem ganz anderen Umfeld, wo wir über diese Kontroversen nicht gesprochen haben. Ich war 30 Jahre bei den Domspatzen. Das sind Kinder und Heranwachsende, mit denen ich vor allem durch die Musik sehr intensive Begegnungen hatte, etwa bei langen Chorproben und auf den Reisen. In dem Bereich, in dem ich tätig war, sind diese Kontroversen nicht vorgekommen.

Sie haben in einem Interview gesagt: "Die nachkonziliaren Schwierigkeiten liegen vor allem im Bereich der Liturgie, wofür aber nicht die Konzilstexte selbst, sondern die nachkonziliare Liturgiereform verantwortlich ist." War die Liturgiereform missglückt?

"Missglückt" würde ich nicht sagen. Ich feiere die Liturgie täglich mit großer Aufmerksamkeit und Erbauung. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Liturgie noch konzelebrieren, wenngleich auch nicht mehr selber zelebrieren kann. Ich glaube nicht, dass die Reform missglückt ist, wohl aber, dass sie für manche Personen nicht ganz stimmig ist.

Warum gehen beim Thema "Liturgie" die Emotionen hoch?

Man erlebt die Liturgie doch mit großer Intensität, und die Modernisten schwören auf ihre Neuerfindungen. Jene, die sich dem Neuen nicht anschließen können, schlagen dann mit gleicher Heftigkeit zurück. Ich muss schon gestehen, dass den liturgischen Bereich betreffend manch ungeschicktes Wort gefallen ist und manch ungeschickte Neuerung eingeführt wurde. Ich würde aber, wie gesagt, nicht die Liturgiereform als Ganzes verurteilen.

Mit dem Motu Proprio "Summorum Pontificum" von Papst Benedikt XVI. ist die Feier der sogenannten Tridentinischen Messe als außerordentlicher Ritus für alle Gläubigen - ohne Sondererlaubnis - freigegeben worden. Ich bekomme selber oft Briefe von Menschen aus München, Regensburg oder aus anderen Orten, denen es ein echtes inneres Anliegen ist, die alte Liturgie wieder feiern zu können. Es ist einigen Menschen nicht geglückt, sich in die neue Liturgie einzufinden. Solchen Personen zu helfen, ist - glaube ich - schon ein Anliegen. Ich muss gestehen, dass ich persönlich da wenige Probleme habe, aber es gibt Menschen von tiefgehender Religiosität, die mit der neuen Liturgie nicht zurandekommen. Sie vermissen einfach vieles, was ihre Liturgiefeier und ihren Glauben früher "verlebendigt" und vertieft hat, und das fehlt in der jetzigen Liturgie.

Sie sind auch Komponist. Wie sehen Sie die Situation der Musik in der Liturgie heute? Herrscht zu viel Beliebigkeit? Entstehen gute Werke?

Ich glaube, die neuen Kompositionen sind alle nicht mehr der ganz große Wurf, wie etwa aus der Bachschen oder Mozartschen Feder. Ich habe etwas gegen diese sogenannten "neuen geistlichen Lieder" oder "rhythmischen Lieder". Es hat nie unrhythmische Musik gegeben. Wenn ich bei solcher Musik zelebrieren müsste, wäre das eine ganz große Überwindung. Ich denke an einen Präfekten bei den Domspatzen, der gerade vom Seminar gekommen war, wo er einige neue Lieder gelernt hatte. Bei einem Lied hieß es: "Wenn der Herr einst wiederkommt, da will ich dabei sein". Die Buben haben dann gesagt: "Der Präfekt will überall dabei sein." Es gibt allerhand, was die Kirche lächerlich macht. Andererseits muss ich sagen: Es sind ernsthafte Versuche, die sich an Menschen richten, die einfach keinen Kontakt zu unserer alten Musik haben. Auch solchen Leuten muss man etwas bieten, was in ihrem Musikverständnis Platz hat. Von daher gesehen, muss man zu diesen Dingen auch "Ja" sagen.

Sie haben 30 Jahre die Regensburger Domspatzen geleitet, haben auch selbst komponiert, zum Beispiel eine Messe im Heiligen Jahr. Komponieren Sie noch gerne?

Ich kann nicht mehr komponieren, weil ich nicht mehr lesen kann. Es ist die Krux meines Alters, dass die Augen nur mehr geringe Sehfähigkeit haben. Ich kann die Notenlinien nicht mehr erkennen. Mit meinem Lesegerät kann ich nur kurze Zeit lesen. Ich kann nur mehr die Musikstücke spielen, die ich auswendig kann, aber der Vorrat des Auswendiggelernten schrumpft von Tag zu Tag.

Aber Musik spielt nach wie vor eine große Rolle in Ihrem Leben. Welche Musik hören Sie gerne?

Was ich nicht höre, ist Jazz, Pop und das Zeug. Das macht mich von vornherein krank. Klassische Musik aller Jahrhunderte höre ich gerne. Nach meiner Überzeugung reicht die Blütezeit der Musik vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert beginnt das Zeitalter der Interpretation, die Tonsprache ist irgendwie aufgebraucht, große Werke entstehen nicht mehr. Bei einer Feier spielt man nicht Hindemith, sondern greift zurück auf Bach, Mozart und Beethoven.

Als Papst Benedikt noch Präfekt der Glaubenskongregation war, haben Sie täglich mit ihm telefoniert. Worüber haben Sie gesprochen?

Wir haben nicht täglich, aber oft miteinander geredet. Wir sprechen immer über das Alltägliche, das Wetter, was jemanden geärgert hat etc. und wälzen keine künstlich tiefschürfenden Probleme, so natürlich sind wir schon geblieben. Hin und wieder reden wir über das, was sich im kirchlichen Umfeld gerade ereignet hat. Eventuell wurde früher erwähnt, dass ein Theologe gerade ärgerliche Dinge in der Welt herumgeschleudert hat, aber im Allgemeinen sind wir auf dem Boden des realen Lebens geblieben.

Sprechen Sie auch über theologische Themen? Haben Sie da auch die gleichen Meinungen?

Darüber sprechen wir wenig. Nur wenn ich theologische Fragen habe, Probleme, die ich nicht verstehe, teile ich ihm das mit und bekomme auch eine Antwort. Die meisten Probleme tauchen bei mir auf, wenn es um das Verständnis der Heiligen Schrift geht oder bei historischen Fragen. Aber wir reden darüber nicht allzu häufig, dafür sehen wir uns auch zu selten. Wenn wir uns treffen, sind wir ungezwungener, da werden die Gespräche weniger anstrengend geführt.

Papst Benedikt XVI. ist jetzt seit zwei Jahren im Amt. Was hat sich bei ihm persönlich geändert?

Eigentlich konnte ich da nur wenig feststellen. Man wird halt älter. Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit und in ihnen. Das trifft sicher auch auf meinen Bruder zu, aber das geschieht in der Jugend rascher als im Alter. Wenn jemand eine sehr gefestigte Persönlichkeit ist und gefestigte Anschauungen hat, sind Veränderungen nach außen kaum festzustellen. Es gibt nur Nuancen, die wenig auffällig sind.

Kurz vor der Wahl Ihres Bruders zum neuen Papst sagten Sie, Sie wünschten sich einen Papst, "der glaubensmäßig auf der richtigen Linie ist und eine Ausstrahlung hat, wie Papst Johannes Paul II.". Sind Sie nach diesen Kriterien mit Ihrem Bruder zufrieden?

Ja, das kann ich wohl sagen. Beide Kategorien kann man bestätigt finden.

Gab es seit der Papstwahl auch Momente, in denen Sie um Ihren Bruder Angst hatten?

Bei der Türkeireise war mir offen gesagt schon etwas flau im Magen. Aber ein Regensburger Bekannter sagte mir, die beste Polizei von der Welt sei in der Türkei. Ich habe mich darauf verlassen - und hatte auch die innere Gewissheit, dass er heil nach Hause kommt.

Sie haben sicher auch das neue Buch Ihres Bruders, "Jesus von Nazareth", gelesen...

Es wird mir vorgelesen. Ich erkenne viele seiner Meinungen wieder, aber hier sind sie gereift, übersichtlich und kompakt zusammengefasst. Ich bin sehr begeistert von dem Buch und ich glaube, dass das wirklich ein Geschenk an die Kirche und an viele Menschen ist.

Heute erscheint die Kirche einigen Menschen nur als eine Institution unter vielen anderen. Haben bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen zu einer Entfremdung von der Kirche geführt?Das, was die Kirche will - die Verbindung des Menschen zu Gott -, das ist natürlich etwas anderes, als die Tagesprobleme, die in der Zeitung stehen. Nicht jeder will allerdings diese geistliche Anstrengung, die die Religion verlangt, mitmachen. Leute, die den Alltag "nur in der primären Erscheinungsform" leben, haben für die Kirche natürlich nicht viel übrig.

Papst Benedikt sagte am 24. Dezember 2005 in einer Ansprache: "Das II. Vatikanische Konzil musste das Verhältnis von Kirche und Moderne neu bestimmen." Gerade heute entsteht freilich der Eindruck, der christliche Glaube sei von unserer modernen Welt "überholt" worden.

Die Kirche muss natürlich immer wieder die Fragen der Zeit verstehen und Antworten darauf finden. Auch muss sich die Kirche so darstellen, dass die Menschen sie nicht einfach als unaktuell ansehen, sondern zu ihr kommen. Das ist immer wieder eine neue Aufgabe, die das Konzil angepackt hat und die auch heute täglich weiterlebt.

Welche Orientierungspunkte zeigt das Konzil aus Ihrer Sicht?

Das Konzil hat sicher viele Orientierungspunkte gegeben. Über das Konzil reden gerade die Leute, die es am wenigsten kennen. Auch ich kenne es - muss ich gestehen - zu wenig, und deshalb rede ich auch wenig davon.

Sie haben nach wie vor eine gute Beziehung zu Ihrem Bruder, dem Papst in Rom. Zu seinem Geburtstag und Ihrem Namenstag waren Sie auch in Rom. Sie haben einmal gesagt, man wird zwar jedes Jahr ein Stück älter, kommt damit aber auch dem Ziel des Lebens näher. Ist das Alter eher Freude oder Bürde?

Freude ist das Alter nicht. Das Alter ist eher das Wissen, dass die Zeit zu Ende ist. Die Zeit war schön, manchmal auch belastend. Man muss das Alter auch ertragen und bejahen, aber schön ist es doch nur mit großen Einschränkungen. Man merkt natürlich auch, dass der Bruder Leib immer wieder Schwierigkeiten bereitet, dass sich eine Schraube nach der anderen lockert. Auch das ist etwas, was das Alter nicht attraktiver und nicht schöner macht.

Eine letzte Frage: Ihr Bruder hat als Wahlspruch: "Mitarbeiter an der Wahrheit". Haben Sie auch einen Wahlspruch?

Ich habe kein Wappen. Mein Bruder hatte diese Devise schon auf seinem Primizbild festgehalten. Ich habe damals etwas drauf geschrieben, was mich immer bewegt hat: "Wir empfangen Gnade über Gnade." Der liebe Gott gibt uns doch sehr viel, worüber wir nur dankbar sein können.

Zur Person:

Georg Ratzinger ist Priester und Kirchenmusiker im Bistum Regensburg. In den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit geriet Georg Ratzinger am 19. April 2005, als sein Bruder Joseph zum Papst gewählt wurde. Seither besuchte er seinen Bruder bereits öfters im Vatikan.

Georg Ratzinger wurde am 15. Januar 1924 als ältestes von drei Kindern in Pleiskirchen bei Altötting geboren. Schon 1936 fing er an zu komponieren. Sein Bruder Joseph schreibt später in dem Buch "Aus meinem Leben" über ihn: "Mein Bruder gab sich leidenschaftlich der Musik hin, die sein besonderes Charisma ist."

Nach dem Krieg traten beide Brüder gemeinsam in das Priesterseminar der Erzdiözese München und Freising ein. Die Priesterweihe im Freisinger Dom und die Primiz feierten sie gemeinsam. Georg Ratzinger schloss danach noch das Studium der Kirchenmusik ab und wurde 1964 zum Domkapellmeister am Regensburger Dom und zum Leiter der Regensburger Domspatzen bestellt.

Die Regensburger Domspatzen bestehen - ähnlich wie die Wiener Sängerknaben - aus Gymnasium, Internat und einem weltweit berühmten Chor. Unter Ratzingers Leitung entstanden etliche Einspielungen (u.a. das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach). Der Chor unternahm viele Konzertreisen, unter anderem in die USA, nach Skandinavien, Japan, Polen und in den Vatikan.

Seit 1994 lebt Ratzinger als Kanonikus in Regensburg. Er erhielt mehrere Auszeichnungen und Ehrungen. 2005 wurde ihm das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse verliehen. Heute ist Georg Ratzinger fast blind, verfügt aber über ein ausgezeichnetes Gehör.

Am Rande einer vom "Theologischen Forum Petersplatz" organisierten Priestertagung hatte die "Wiener Zeitung" Gelegenheit zu einem Interview mit Georg Ratzinger. Ort des Treffens war das "Internationale Tagungshaus Hohe Wand" in Dreistetten.