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Gründung des ersten sozialdemokratischen Staates vor 90 Jahren gewürdigt. | Paris. Die französische Gemeinde Leuville-sur-Orge im Süden von Paris ist ein georgischer Mythos. Hierher hat sich die Regierung der ersten unabhängigen Republik Georgien (1918-1921) nach deren Niederschlagung ins Exil zurückgezogen. Mit einem offiziellen Festakt wurde nun dort das 90-jährige Jubiläum der Republiksgründung gefeiert. Das Gründungsdatum, der 26. Mai, ist zwar der Nationalfeiertag im seit 1991 wieder unabhängigen Georgien. Und Leuville ist dort bis heute ein Begriff. Doch die eigentliche Geschichte dieser Epoche sei heute ein blinder Fleck im historischen Bewusstsein der Georgier, bedauert Natela Schordania, die Tochter des Präsidenten der ersten Republik, Noe Schordania.
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"Dabei war Georgien die erste sozialdemokratische Republik der Welt", betont die energische 89-Jährige, die heute in Leuville lebt, aber noch in Tiflis geboren wurde. "Vertreter der sozialistischen Internationale kamen von überall her, um zu sehen, wie dieser Staat funktioniert." Die Agrarreform, die Einführung des Frauenwahlrechts und Abschaffung der Kinderarbeit seien für die Zeit revolutionär gewesen. 1921, kaum drei Jahre nach ihrer Gründung, wurde die Kaukasusrepublik von der Roten Armee besetzt. Die Regierung ging ins Exil, um von Frankreich aus den Kampf für ein unabhängiges Georgien weiterzuführen.
Auf Staatskosten kauften die Exilpolitiker einen weitläufigen Park mit einem Jagdpavillon in der Nähe von Paris, in dem sie zusammen mit anderen Emigranten in einfachsten Verhältnissen lebten. "Leuville war für uns Klein-Georgien in Frankreich", erinnert sich Schordanias Enkelin, die bekannte Tänzerin Ethery Pagava. Die Gemeinde wurde zum Treffpunkt der Exilgemeinschaft, zum legendären "Levili", wie es die Georgier nennen, einem Symbol des nationalen Widerstands.
Warten auf ein Denkmal
Von hier aus bereitete die Exilregierung den Aufstand von 1924 vor, in dem in Georgien Tausende, darunter einige Kabinettsmitglieder, ums Leben kamen. Von hier aus wurden auch in den Jahrzehnten danach geheime Botschafter nach Tiflis entsandt. "Mein Großvater und seine Minister haben wirklich für die Unabhängigkeit Georgiens gelebt", betont Pagava. "Und sie haben bis zu ihrem Tod vergeblich gehofft, eines Tages zurückkehren zu können."
Der Friedhof von Leuville mit seinen über 500 georgischen Gräbern ist längst zu einer Pilgerstätte geworden. Das "Schloss", wie der Jagdpavillon liebevoll genannt wird, sollte nach dem Vermächtnis der ehemaligen Exilregierung an Georgien zurückgegeben werden, sobald dieses "frei und demokratisch" ist - über die genauen Modalitäten wird derzeit verhandelt. Im Sitzungszimmer hängen noch die Porträts der Mitglieder der Exilregierung und die Unabhängigkeitserklärung von 1918, flankiert von der alten und der neuen georgischen Flagge. Dass Georgien vor drei Jahren Fahne und Hymne, die alten Symbole der Unabhängigkeit, geändert hat, erscheint den Nachkommen Schordanias symptomatisch. Es gebe bis heute in Georgien kein einziges Denkmal für die erste Republik. "Während des Kommunismus wurde die Geschichte totgeschwiegen. Und heute wird ohne Unterschied alles abgelehnt, was links ist", konstatiert Christine Pagava-Boulez, eine Enkelin von Noe Schordania. Der für die Diaspora zuständige georgische Minister Iulon Gagoschidze formulierte es bei der Jubiläumsfeier in Leuville nüchterner: "Im Augenblick hat Georgien einfach größere Sorgen als Denkmäler zu bauen."