15 Jahren Haft im Prozess um einen toten Rekruten.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Er wirkt abwesend, als wäre er gedanklich in einer anderen Welt, dieser Herr A. Starr auf der Anklagebank sitzend, schaut er beständig auf den Boden. Um alles, um seine Freiheit, geht es heute für ihn: Des Mordes angeklagt, droht ihm im schlimmsten Fall eine lebenslange Haftstrafe. Doch keine Emotionen zeigen sich während der stundenlangen Verhandlung auf seinem Gesicht. Fast erstarrt, bewegt er nur hier und da leicht den Kopf, kurz ins Publikum oder zu den Geschworenen schauend.
Anteilslos hört er sich das Gutachten an, das der Schießsachverständige Manuel Fließ vorträgt. Der Gutachter spielt dem Gericht Videos von Schussversuchen vor, die er in seinem Labor durchgeführt hat. Doch dann passiert es. Im Video wird ein Schuss abgegeben, er ist abgedämpft und nicht laut, niemand im Gerichtssaal nimmt davon sonderlich Notiz. Außer A. Er wird panisch.
Erschrocken zuckt er zusammen, gleich nachdem der Schuss gefallen ist. Das Herz des kleinen Mannes beginnt zu pochen, der Atem wird schneller, rasend schnell bewegt sich seine Brust auf und ab. Er braucht einige Zeit, um sich zu erholen. Erleichtert fährt er sich über die Stirn und durch die Haare, als der Schrecken nachlässt. Doch dann ist im Video erneut ein Knall zu hören. Wieder zuckt A. zusammen, erneut wird er in minutenlange Pein gestoßen. Das Hören eines Schusses, sei er auch noch so leise, es macht etwas mit A.
Wegen eines Schusses sitzt er auch am Donnerstag auf der Anklagebank, in Saal 211 des Wiener Straflandesgerichts. Der 22-jährige Grundwehrdiener hat am 9. Oktober 2017 seinem zwei Jahre jüngeren Kameraden in der Wiener Albrechtskaserne in den Kopf geschossen und tödlich verwundet. Laut der Staatsanwaltschaft war es ein Mord. A. spricht hingegen von einem Schießunfall.
Zahlreiche Fallversuche
Beim Verhandlungsauftakt bekannte sich A. - die "Wiener Zeitung" berichtete - schuldig im Sinne einer grob fahrlässigen Tötung. Ermordet habe er seinen Kameraden aber nicht.
Der Angeklagte und der Getötete waren Wachsoldaten, sie schliefen gemeinsam in einem Container beim Kaserneneingang. Am Vorfallstag versah A. Wachdienst, der Getötete lag auf einer Pritsche im Ruheraum des Containers.
A. gibt an, dass er seinen Kameraden wecken wollte, um mit ihm eine Zigarette zu rauchen. Beim Betreten des Ruheraums sei er gestolpert und hingefallen, wodurch sich unabsichtlich ein Schuss gelöst habe. Zuvor sei ihm die Waffe heruntergefallen, wodurch eine Patrone aus dem Magazin in den Lauf gelangt ist, meint A. Da er während des Dienstes immer mit der Sicherung herumgespielt habe, sei die Waffe bei der Schussabgabe auch entsichert gewesen, sagt A.
Die Staatsanwaltschaft glaubt ihm nicht. Sie geht von einer vorsätzlichen Tötung aus. "In dem Moment, wo er abgedrückt hat, wollte er das Opfer töten", so Staatsanwalt Georg Schmid-Brimburg. Er beruft sich vor allem auf das eingangs erwähnte Schießgutachten von Fließ.
Fließ hat mit der Tatwaffe - einem Sturmgewehr 77 - und der vom Bundesheer verwendeten Munition zahlreiche Tests durchgeführt. Er ließ die Waffe samt geladenem Magazin aus verschiedenen Höhen senkrecht auf den Boden fallen. Bei einer Fallhöhe von 1,25 Metern lud sich die Waffe bei einem von sechs Versuchen nach. Ab einer Fallhöhe von 1,5 Metern gelangte sogar bei jedem Versuch eine Patrone in den Lauf.
Das würde eigentlich für die Version des Angeklagten sprechen. Doch hier kommt das große Aber. Nachdem Fließ mit der - durch den Sturz - geladenen Waffe schoss, waren bei sämtlichen Patronenhülsen Längsriefen zu sehen. Diese zeigten sich bei regulär geladener und abgeschossener Munition hingegen nicht. Auch bei der am Tatort sichergestellten Patronenhülse waren sie nicht zu finden. Daraus lasse sich schlussfolgern, "dass die Patrone nicht durch Fallen der Waffe in den Lauf gelangt sein kann", sagt der Schießsachverständige. Von wo genau und aus welcher Position der Schuss abgegeben wurde, kann Fließ jedoch nicht rekonstruieren.
Böse Blicke
Kein gutes Bild gibt eine der Geschworenen ab. Sie döst während, abgestützt auf ihren Ellbogen, während der Verhandlung mehrmals ein. Das bleibt nicht unbemerkt. Böse Blicke der drei Berufsrichterinnen erntet sie, denn immerhin entscheiden die Geschworenen alleine über die Schuld des Angeklagten. Erst durch den Stupser einer Berufsrichterin öffnet die Geschworene wieder die Augen.
Etwas später legt sie ihre Hände an die Schläfen, die Richter können von der Seite nicht mehr in ihr Gesicht blicken. Von vorne können Prozessbeobachter auf der Zuschauerbank jedoch wahrnehmen, dass sie die Augen erneut schließt - gerade beim so wichtigen Gerichtsgutachten von Fließ. Und auch der neben ihr sitzende Geschworene wird darauf aufmerksam und rempelt sie an.
Entscheidung am Abend
Am Ende entscheidet eine Geschworenenstimme über A.s Schicksal. Mit dem knappest möglichen Abstimmungsverhältnis von 5:3 Stimmen entscheiden die Geschworenen zugunsten der Anklage. Er wird zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Bei Stimmengleichheit wäre der inkriminierte Vorwurf der vorsätzlichen Tötung vom Tisch gewesen. Weshalb sich die Geschworenen mehrheitlich der Mordanklage angeschlossen haben, wird - dem Gesetz entsprechend - nicht begründet. Die vorsitzende Richterin Eva Brandstetter verweist auf den Wahrspruch der Geschworenen. Bei der Strafbemessung fällt die bisherige Unbescholtenheit des Schützen mildernd ins Gewicht. Erschwerend ist, dass der Getötete den Angriff nicht abwehren konnte.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig, Verteidiger Manfred Arbacher-Stöger meldet Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an. Angehörige des Angeklagten zeigen sich bei der Urteilsverkündung entsetzt. A. hingegen mwirkt ruhig, fast schon teilnahmslos.