Zum Hauptinhalt springen

Geplündert, vertrieben, ermordet

Von Georg Traska

Die jüdische Gemeinde in Sechshaus überstand die Ereignisse des Jahres 1938 nicht. In der Nacht auf den 9. November wurde auch ihre Synagoge, der Turnertempel, zerstört.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Mit dem Anschluss am 12. März 1938 hörte Österreich zu existieren auf und gliederte sich – unter Druck, aber ohne Widerstand zu leisten – in das nationalsozialistisch regierte Deutsche Reich ein. Am selben Tag und noch am Vorabend traten die bis dahin illegal organisierten österreichischen Nationalsozialisten öffentlich auf und begannen die jüdische Bevölkerung zu terrorisieren. Nicht geringe Teile der Zivilbevölkerung schlossen sich der NS-Euphorie, der sadistischen Gewalt und missgünstigen Gemeinheit an. Unter der Oberfläche von politischer Propaganda und ziviler Bewegung begann eine beispiellose Beraubung, Drangsalierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Sie wurde aus fast allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens gedrängt und der unvermeidlichen Verelendung ausgesetzt.

Die Verfolgung zielte, solange die Grenzen der Nachbarländer offen waren, auf die Vertreibung aller Juden und Jüdinnen aus dem Deutschen Reich ab – unter Zurückhaltung des größtmöglichen Teiles ihres Vermögens. Bei den Betroffenen führte das zu verzweifelten Anstrengungen um Selbstbehauptung, die bald nur noch in der Flucht bestand, und zu stark vermehrten Selbstmorden. Mitunter, aber viel zu selten, wurden die Verfolgten auch von nicht-jüdischen Österreichern unterstützt.

Die jüdische Gemeinde "Sechshaus" war von diesen Ereignissen gleichermaßen betroffen wie ganz Österreich. Die Bewohner wurden aus ihren Wohnungen verdrängt und in Sammelwohnungen konzentriert, zuerst noch in derselben Umgebung. Später wurden jene, denen die Flucht nicht gelang, in den 2. Bezirk umgesiedelt, von wo sie in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. Die Kinder wurden aus ihren Schulklassen in jüdische Sammelschulen gezwungen, fast alle Juden und Jüdinnen verloren ihre Arbeit, ihr Besitz wurde geplündert und unter dem juristischen Deckmantel der "Arisierung" meist schamlos geraubt.

"Arisierung"
Nach der NS-Diktion bedeutete "Arisierung" die Überführung von "jüdischem" in "arischen" Besitz. Der Vorgang betraf alles, was irgendwie von Wert war. Im Fall des Einzelhandels war er für die Öffentlichkeit am deutlichsten sichtbar, nachdem die Geschäfte vor aller Augen von Nazis beschmiert, verwüstet und geplündert wurden. Doch betrafen Arisierungen alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche von Mietrechten, dem Privatbesitz, Gewerbe- und Industriebetrieben bis zu Urheberrechten etc. Überwiegend handelte es sich um eine "legal" gedeckte Form des Raubes, also um Zwangsverkäufe unter extremen Bedingungen oder um gewaltsame Aneignung, die nicht geahndet wurde. Privatpersonen machten sich ungefragt zu Kommissaren von jüdischen Geschäften und Betrieben und lenkten die weiteren Vorgänge nach ihren Bedürfnissen, oder sie bedienten sich einfach in der Nachbarwohnung. NS-Funktionäre und parteinahe Personen nutzten ihre Position dabei leidlich aus. Einige Monate nach dem "Anschluss" versuchten die NS-Behörden die Arisierungen besser zu kontrollieren, um die individuelle Bereicherung einzudämmen und den Besitz dem NS-Staat einzuverleiben. Die Erlöse, die Juden und Jüdinnen erhielten, wurden in der Regel auf ein Sperrkonto übergeführt, über das sie nicht verfügen konnten. Sondersteuern wie die "Reichsfluchtsteuer" taten das ihre zur möglichst restlosen Enteignung der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner.

Kulturelle Auslöschung
Die Absicht der Nazis war es, die unermesslich vielfältigen Beiträge, die Juden und Jüdinnen über Jahrhunderte in der deutschsprachigen Kultur und Kunst hinterlassen hatten, auszutilgen – und nach Möglichkeit das gesamte Judentum über diesen Raum hinausgehend auszulöschen. Eine der einschneidendsten Akte dieser Auslöschung war die Zerstörung der Synagogen in der Reichspogromnacht des 8. und 9. November 1938. Alle Synagogen Wiens wurden verwüstet, alle freistehenden wurden in Brand gesetzt, so auch der Turnertempel. Das Grundstück wurde gleich nach der Zerstörung des Tempels von einem benachbarten Transportunternehmer, welcher der lokalen NSDAP nahe stand, "auf dem Weg der Arisierung" erworben und an seiner Stelle eine Garage errichtet. Diese bestand bis in die 1970er Jahre, und erst ab den 1980er Jahren erinnerte eine versteckte Gedenktafel an die zerstörte Synagoge. Die Storchenschul konnte, weil mit den Nachbarhäusern in engem Bauverbund stehend, nicht abgebrannt werden und wurde nur in ihrem Inneren zerstört. Daher befinden sich bauliche Reste der Synagoge bis zum heutigen Tag in der Storchengasse 21.

Flucht und Ermordung
Bei den meisten Jüdinnen und Juden, die über die für die Ausreise erforderlichen Mittel und über die notwendige geistig-körperliche Energie verfügten, richteten sich bald nach dem Anschluss alle Anstrengungen auf die Organisation der Flucht. Bis Kriegsbeginn im September 1939 war das größte Fluchthindernis nicht die Aus-, sondern die Einreise in ein anderes Land, das heißt, dessen Aufnahmebereitschaft. Die Flucht wurde von den NS-Behörden zwar grundsätzlich gefördert, allerdings brachten die Mechanismen der möglichst vollständigen Beraubung, die der Ausreise vorangingen, auch große bürokratische Hürden mit sich. Die gesamte Abwicklung der Flucht wurde der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und anderen jüdischen Organisationen überlassen. Diese trieben finanzielle Unterstützung aus dem Ausland auf und organisierten sogar Umschulungslager, um den Fliehenden in den Aufnahmeländern erwünschte Qualifikationen zu verschaffen. Selbst wenn die Flucht aus dem Deutschen Reich gelang, gerieten viele der Entflohenen nicht in die erhoffte Freiheit, sondern in eine weitere, oft Jahre währende Gefangenschaft, da deutschsprachige Juden und Jüdinnen von den Kriegsgegnern Deutschlands als potenzielle Feinde oder Spione behandelt wurden und illegale Palästina-Flüchtlinge von den englischen Mandatsherren vor der Küste abgefangen, deportiert und jahrelang in Lagern festgehalten wurden.

Von den rund 206.000 österreichischen Juden und Jüdinnen gelang etwa zwei Drittel die Flucht, mindestens 65.000 wurden ermordet. Dass der NS-Terror über Österreich bereits anderthalb Jahre vor Kriegsbeginn hereinbrach, war in dieser Hinsicht ein "Vorteil" für die jüdische Bevölkerung, weil so noch verhältnismäßig viel Zeit verblieb, bis die meisten Staatsgrenzen mit dem Kriegsbeginn im September 1939 unpassierbar wurden. Allerdings war es insbesondere für ärmere Juden und Jüdinnen angesichts der NS-Beraubungspolitik extrem schwierig, die Mittel für die Reise aufzubringen. Die schwächeren, älteren Bevölkerungsschichten blieben zu einem weit größeren Teil zurück und wurden ermordet. Viele wurden auf der Flucht in Nachbarländern, etwa der Tschechoslowakei, Ungarn oder Jugoslawien, vom NS-System eingeholt und gerieten dort in die Vernichtungsmaschinerie. Von denen, die in ein Ghetto, Konzentrations- oder Vernichtungslager deportiert wurden, überlebten nur wenige. Kurz nach dem Anschluss wurden vor allem Prominente und (potenzielle) Regimegegner in die KZ Dachau und Buchenwald deportiert, eine weitere Deportationswelle in diese KZ stand mit dem Novemberpogrom 1938 in Zusammenhang. Im Juli 1941 beschloss das Nazi- Regime die "Endlösung der Judenfrage", also die vollständige Vernichtung, und die Deportation in die Vernichtungslager begann. Geringe Überlebenschancen bestanden nur für die, die als "arbeitsfähig" von der unmittelbaren Ermordung ausgesondert wurden, oder in manchen Ghettos – für Österreicher vor allem im Ghetto Theresienstadt. Für die meisten war auch dieses nur ein Durchgangslager in die Vernichtung.

Ungefähr 4000 von etwa 185.000 Juden und Jüdinnen, die 1938 in Wien gelebt hatten, erlebten hier die Befreiung. Die meisten von diesen lebten mit einem nicht-jüdischen Ehepartner oder waren nach den Begriffen der Nürnberger Rassengesetze "jüdische Mischlinge ersten oder zweiten Grades". Sie wurden nicht grundsätzlich deportiert, doch war auch das für niemanden klar. Es wurde für Teilgruppen unterschiedlich und mitunter vollkommen willkürlich gehandhabt.

Auch "Halbjuden" oder mit Nicht-Juden Verheiratete lebten Jahr um Jahr, Tag um Tag in derselben permanenten Angst wie alle anderen hier verbliebenen Juden und Jüdinnen, von denen fast alle deportiert und ermordet wurden.

Nach 1945 siedelte sich in den südwestlichen Außenbezirken keine jüdische Gemeinde mehr an. Vereinzelte jüdische Bewohner waren nur auf eine gesamte Wiener Gemeinde mit ihrem Zentrum in der Seitenstättengasse und weiteren Infrastrukturen im 2. Bezirk bezogen. Eine Episode jüdisch-gesellschaftlichen Lebens in dieser Region kam lediglich dadurch zustande, dass in dem Gebäude in der Storchengasse 22, das in Rechtsnachfolge des bis 1938 hier ansässigen Bethausvereins an die Israelitische Kultusgemeinde Wien restituiert wurde, in den Jahren 1955- 74 der Haschomer Hazair sein "Nest" (hebräisch: Ken) hatte. In der linkszionistischen Jugendorganisation erfuhren viele der heute bekannten jüdischen Intellektuellen Wiens ein Stück ihrer Sozialisation.

Erinnerung und Erinnerungsarbeit
Die Entrechtung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Wien war endgültig. Die Vertriebenen konnten zwar physisch nach Wien zurückkehren, aber das konnte nie ein Anschließen an die Zeit vor 1938 sein. Dennoch unterhielten die Vertriebenen in all den Jahrzehnten, die seither vergingen, eine intensive innere und äußere Verbindung mit dem Land ihrer Herkunft und mit der Stätte, an der ihr Leben eine katastrophale Wende genommen hatte. Manche brauchten Jahrzehnte, um eine erste Rückkehr zu wagen; andere konnten die innere Barriere nie überwinden. Aber alle nahmen etwas von "ihrem" Wien mit: in der Sprache, in kleinen kulturellen Gewohnheiten oder in den musikalischen Vorlieben. Gerade aber den positivsten Erinnerungen an Wien und Österreich haftete immer etwas Ambivalentes durch den tiefen Bruch, der ein Anschließen an diese guten Erlebnisse ein für allemal ausschloss, an.

Das Projekt "Herklotzgasse 21" traf die Überlebenden dieser Gemeinde in einem Alter an, als die Auseinandersetzung mit den in Wien verbrachten Kindheits- und Jugendjahren eine neue Intensität erreichte. Manche von ihnen begannen einander zu suchen. Chava Kopelman hängte beispielsweise ein Foto von ihrem Jahrgang des jüdischen Kindergartens aus dem Jahr 1935 am österreichischen Konsulat auf das schwarze Brett – mit der Frage, wer sich darauf selbst oder andere erkenne und mit der Bitte um Kontaktaufnahme. Für die Suche nach Zeitzeugen und das forschende Fragen hätte es also keinen besseren Zeitpunkt geben können. Einer Generation von Österreichern angehörend, die in die Verbrechen der NS-Zeit nicht verstrickt waren, wurden die Projekt-Initiatoren mit offenen Armen empfangen und es bereitete den israelischen Alt-Österreichern sichtlich Freude, ihre Erinnerungen zu teilen.

Die Interviews in stunden-, mitunter ganze Tage lang währenden Sitzungen waren von extremer Gefühlsintensität und mit Hilfe des Jewish Welcome Service gelang es, die meisten Interview- Partner zur Ausstellungseröffnung 2008 nach Wien zu bringen. Welche Tiefe des Austausches, des Vertrauens und der Freundschaft dabei entstehen würde, war aber nicht sofort zu begreifen. Es war angesichts der Unwiederbringlichkeit und traumatischen Fortdauer der Verluste von Eltern, Großeltern, Geschwistern, Freunden in der NS-Vernichtungsmaschine beinahe beschämend, wie große Bedeutung die Überlebenden der rein symbolischen Arbeit des Projektes beimaßen und bis heute beimessen. Erst nach und nach verstanden die Initiatoren des Projektes, dass das offene, respektvolle und kreative Darstellen der Erinnerungen und Relikte dieser jüdischen Gemeinde am Ort der Kindheit, der familiären und kulturellen Wurzeln etwas sehr tief in den Seelen der Überlebenden berührte. Wenn es auch nichts beruhigen konnte – leider in einigen Fällen sogar eine weitere seelische Unruhe erzeugte –, so konnte es doch einen gewissen Bogen schließen, hier in Wien wieder willkommen zu sein und einen öffentlich sichtbaren Platz der Erinnerung eingeräumt zu bekommen. Dieser "sinnvolle" Bogen kann wenigstens koexistieren neben dem zutiefst Sinnlosen, Sinnentstellten und Menschen-Entstellenden der NS-Gewalt.