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Gerard Mortier

Von Stephan Burianek

Reflexionen

Gerard Mortier erklärt, warum er den Direktor-Posten der New York City Opera doch nicht angenommen hat, spricht über seine Bewerbung in Bayreuth und über Eindrücke aus Wien und Salzburg.


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Wiener Zeitung: Herr Mortier, vor kurzem sorgten Sie gemeinsam mit Nike Wagner für Aufsehen durch die gemeinsame Bewerbung für die Bayreuther Festspiele. Gerard Mortier: Zunächst muss ich sagen, dass es eine Don Quichote-hafte Bewerbung war. Alle wussten ja, dass Wolfgang Wagners Bedingung für seinen Rücktritt die Nachfolge seiner Tochter Katharina war. Wir wussten auch, dass sich Eva Wagner-Pasquier - die ich sehr schätze - aus der Verbindung mit Nike gelöst hat, um überhaupt eine Chance zu haben. Mir war wichtig zu zeigen, dass die Nachfolge einer Institution, die vom Steuerzahler mitfinanziert wird, keine Familienangelegenheit sein sollte. Und ich denke, das haben wir geschafft. Wenn in fünf Jahren die Verlängerung der Festspielleitung ansteht, wird man dann wahrscheinlich anders entscheiden. Es war also, wenn man so will, eine politische Tat. Meine zwanzigminütige Rede vor dem Stiftungsrat war ein großer Erfolg, aber sie hat keine Rolle mehr gespielt, weil bereits alles entschieden war.

Wie sah Ihr Konzept aus? Was hätten Sie anders gemacht?

Das Konzept bestand aus drei Punkten. Erstens sollte man Richard Wagner wieder als deutschen Künstler betrachten. Damit meine ich nicht das Deutschland des Reichskanzlers Bismarck, sondern das Deutschland von Friedrich II. von Hohenstaufen, der all diese Dichter wie Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide an seinem Hof unterstützt hat. Also jenes Deutschland, das Wagner immer vorgeschwebt ist - etwa im "Parsifal" -, ein Deutschland, das von der Nordsee bis Sizilien reichte: Das Heilige Deutsche Römische Reich. Dieses Deutschland hatte Wagner im Sinn und nicht das nationalistische, das nach Bismarck zum Faschismus geführt hat. Man sollte Wagner aus dem nationalistischen Deutschland herausziehen und zeigen, dass er ein größerer, europäischer Künstler war - man vergisst häufig, dass er lange im Exil lebte. In einem Beispiel zusammengefasst: Wenn ich an die "Meistersinger" denke, dann denke ich natürlich an den Hans Sachs. Ich sehe diese Figur aber nicht als Vertreter der Mittelschicht, sondern als einen Künstler wie Albrecht Dürer.

Zweiter Punkt: Ich habe dem Stiftungsrat einen Brief aus dem Jahr 1863 vorgelesen, der auch in dem Buch von Jonathan Carr über den Wagner-Clan zu finden ist. Darin schreibt Wagner im Zusammenhang mit dem Bau des Festspielhauses, dass neben dem "Ring" regelmäßig Uraufführungen moderner Opern stattfinden sollen, deren Komponisten sich in Wettbewerben beweisen sollten. Am Anfang hat Wagner nicht daran gedacht, dass in Bayreuth nur seine eigenen Werke gespielt werden sollten. Das hat sich erst später durch Cosima Wagner geändert. Im Gegenteil: Wagner dachte, man müsse neue Werke für dieses Opernhaus schreiben. Es ist für mich eine der größten Tragödien von Bayreuth, dass es eines der schönsten Opernhäuser der Welt mit einer ganz besonderen Akustik ist, und dass seit Wagner kein Komponist für diesen Raum geschrieben hat. Ich fände es für die Erneuerung von Bayreuth sehr wichtig, dass man das einmal ausprobiert. Unsere Idee war, das Festspielhaus auch zu Pfingsten zu öffnen, und alle zwei Jahre eine Uraufführung herauszubringen. Man hätte dafür ein existierendes Orchester nehmen können - ich dachte etwa an die Bamberger Symphoniker oder eines der großen deutschen Rundfunkorchester.

Mein dritter Punkt betraf das künstlerische Niveau. Die Besetzung, die Sie gerade im "Tristan" in Paris erlebt haben, können Sie derzeit in Bayreuth nicht hören. Und was die Inszenierungen betrifft - das wird Sie jetzt wundern - müsste Bayreuth wieder aus dem Requisitentheater herauskommen. Das heißt: keine Nazifahne mehr, und kein Rollstuhl. Einer der Geniestreiche von Wieland Wagner war, einen kosmischen Raum zu schaffen. Ich würde dafür plädieren, in der Zukunft große plastische Künstler wie Bill Viola einzubeziehen, die eine große Figur auf die Bühne stellen.

Ihr Name wurde in den Medien auch genannt, als es um die Neubesetzung der Wiener Staatsoperndirektion ging.

Ich hatte damals einen sehr positiven Kontakt zu Bundesministerin Claudia Schmied, aber ich wollte nach Paris nicht nochmals ein riesiges Opernhaus übernehmen. Die Wiener Staatsoper ist eine wunderbare Institution. Aber ich dachte nein, ich bin schon 65, und habe auch schon meine Erfahrungen mit der österreichischen Mentalität gemacht. Es kann sein, dass ich mir das genauer hätte überlegen sollen. Wenn ich das mit der Finanzkrise gewusst hätte, dann hätte ich mich vielleicht nie für New York interessiert.

Was hätten Sie in Wien verändert?

Ich liebe die Wiener Philharmoniker sehr, sie sind das beste Orchester der Welt. Aber ich finde, dass sie in der Oper nur 70 Prozent ihrer Möglichkeiten ausspielen. Wenn ich in Wien Direktor geworden wäre, hätte ich ihnen gesagt: "Spielt immer auf höchstem Niveau. Ich verstehe, dass ihr auf Tour gehen müsst. Spielt also nur 150 Vorstellungen, die aber perfekt." Die Philharmoniker hätten Wagner, Mozart, Strauss und die großen Verdi-Opern spielen können. Puccini, Donizetti oder die modernen Werke könnten hingegen die Wiener Symphoniker, das Klangforum oder der Concentus Musicus übernehmen. Das wäre doch viel besser. Wenn die Philharmoniker das lesen, werden sie vermutlich sagen: "Ach, dieser Mortier". Aber es geht ja nicht gegen sie.

Wo lebt es sich als Operndirektor besser: In Österreich oder in Frankreich?

Ich habe natürlich auch in Paris meine "Buh"-Rufe und kenne hier schon alle kritischen Stimmen - sodass ich einen Chor daraus komponieren könnte. Aber im Ernst: Salzburg war natürlich eine wichtige Station in meiner Karriere und hat mir viel ermöglicht. Ich habe diesbezüglich keinerlei bitteren Nachgeschmack, im Gegenteil. In meinen fünf Jahren in Paris habe ich gespürt, dass ich viele Schwierigkeiten in Wien hätte. Ich ärgere mich einerseits über die provinziellen Züge der Österreicher, die eigentlich gar nicht nötig wären. Schließlich war das doch einmal ein kulturell so unglaublich wichtiges Land. Andererseits treffe ich in Wien stets Leute von hohem Intellekt und mit großem Interesse. Was ich in Paris hingegen etwas vermisse, ist diese unglaubliche musikalische Qualität, die es in Wien gibt. Man muss eine Zeit lang aus Österreich weg sein, um wieder zu entdecken, welch großartige Musikstadt Wien ist. Paris ist zwar größer als Wien, aber als Musikstadt nicht vergleichbar.

Ihr Orchester an der Pariser Nationaloper ist aber erstklassig...

Ja, aber das war nicht immer so. Als ich hier ankam, habe ich mich zuallererst dem Orchester gewidmet und viel an der orchestralen Qualität gearbeitet, was mitunter nicht leicht war. Hier in Paris ist es immer schwierig gewesen, die traditionell tollen Solisten im Orchester zu einem gemeinsamen Orchesterklang zu verschmelzen. Als ich hier anfing, sagte Georg Solti zu mir: "Mortier, Sie werden merken, dass es schwierig sein wird, einen Orchesterklang zu erreichen. Das sind hier alles Solisten." Wir hatten beispielsweise vor unserem Japan-Gastspiel im vergangenen Juni rund neun Orchesterproben für "Tristan und Isolde". Seiji Ozawa hat hier in diesem Jahr sehr erfolgreich "Tannhäuser" dirigiert und gesagt, dass sich das Orchester ungeheuer gesteigert habe.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung, welche die Salzburger Festspiele nach Ihrer Intendanz genommen haben?

Über meine Nachfolger möchte ich nicht urteilen. Jeder hat seinen persönlichen Stil und seine Qualitäten. Ich finde aber, dass die Festspiele außerhalb des Schaupiel- und Musikbereichs auf einen zu kommerziellen und zu arbiträren Spielplan setzen. Beispielsweise hat "Romeo et Juliette", von einem so schlechten Komponisten wie Gounod, in Salzburg überhaupt nichts zu suchen. Wenn man Verdis "La Traviata" spielt, ist das was anderes - dieses Stück habe ich für die Festspiele immer verteidigt - aber Gounod ist doch wirklich schlechte Musik! Hätte Hoffmannsthal das gewusst, er hätte sich im Grab umgedreht. Und warum spielt man Dvoøáks "Rusalka"? Es gibt doch unglaublich gute Stücke von Janáèek, die dort noch nie gespielt wurden. Der Unterschied zwischen Dvoøák und Janáèek ist doch riesig!

Ihre Sympathie für Janácek ist in Österreich bekannt. Auch in dieser Saison spielen Sie zwei seiner Werke.

Er ist ein so großartiger Komponist, dass er nahezu organisch ins Opernrepertoire aufgenommen werden kann. Aber in Frankreich hatte man das lange nicht gewusst. Er ist der Inbegriff eines Komponisten des 20. Jahrhunderts und ein post-wagnerianischer Komponist wie auch Alban Berg und Strawinsky. Diese Komponisten haben es geschafft, eine eigene Sprache zu entwickeln, die repertoirefähig ist. Das muss man unterstützen. Es ist immer noch schwierig, genauso viele Leute ins "Schlaue Füchslein" zu locken wie in "Rigoletto". Aber wenn man durchhält, lässt sich das erreichen. Für das "Schlaue Füchslein" haben wir jetzt immerhin schon 20.000 Besucher für zehn Vorstellungen. Das werte ich als Erfolg, auch wenn wir damit keine volle Auslastung erzielen.

Sie bringen in Paris alle Opern in der Originalfassung. An der Staatsoper werden Janáceks Opern immer noch in der Übersetzung von Max Brod gezeigt.

Da es diese anerkannten Brod-Texte gibt, lassen sich die deutschen Fassungen vielleicht besser verteidigen. In der Wiener Staatsoper, wo ja alles andere in Originalsprache gesungen wird, würde ich heute auch bei Janáèek für die Originalfassung plädieren, zumal seine Tonsprache bekanntlich mit der Wortmelodie zusammenhängt. Auf Deutsch versteht man es darüber hinaus häufig sowieso nicht, weil keine deutschsprachigen Sänger genommen werden. In einem kleineren Haus würde ich mich aber vielleicht trotzdem für die deutsche Fassung entscheiden. In Frankreich würde ich es jedoch in keinem Fall auf Französisch bringen.

Sie waren ab der kommenden Saison für die Leitung der New York City Opera vorgesehen. Vor einer Woche wurde bekannt, dass Sie diese Funktion nun doch nicht wahrnehmen werden.

Ich hatte um ein Budget von 60 Millionen Dollar gebeten, und dann kam eine Anfrage vom Aufsichtsrat, es auf 36 Millionen herunterzudrücken. Das konnte ich nicht akzeptieren. Von der Finanzkrise werden auch die subventionierten Häuser betroffen sein. Aber ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich keine Rabatt-Oper mehr machen möchte.

Sie hatten schon viel Zeit in dieses Projekt gesteckt.

Das stimmt. Ich habe zwei Jahre wie verrückt gearbeitet und bereits drei Saisonen geplant. Das Konzept für New York ließ sich unter einer bestimmten Grenze aber nicht realisieren. In der ersten Saison hätte ich gerne gezeigt, dass man mit Opern aus dem 20. Jahrhundert einen ebenso fulminanten Spielplan machen kann wie mit Donizetti, Gounod oder Bizet - wie es gemeinhin üblich ist. Ich hatte später auch "Cosí fan tutte" mit Michael Haneke als Regisseur geplant. Aber wenn sich das nicht in New York realisieren lässt, dann bestimmt irgendwo anders. Ich habe da keine Angst.

Sie hatten für die New York City Opera bereits zwei neue Opern beauftragt. Was muss man bei der Vergabe von Auftragswerken beachten?

Man muss sich zuerst entscheiden, ob man eine narrative oder konzeptuelle Oper bringen möchte. Ich habe bisher in beide Richtungen Aufträge vergeben. Natürlich schließt das eine das andere nicht aus. Bergs "Wozzeck" ist zum Beispiel sowohl narrativ als auch konzeptuell. "Melancolia" von Georg Friedrich Haas (Auftragswerk der Pariser Nationaloper, Anm.) ist eher konzeptueller Natur.

Sie haben einerseits Philip Glass beauftragt, eine Oper über Walt Disney zu schreiben...

Ich fand es zunächst einmal interessant, dass noch keine Oper über Walt Disney entstanden ist, obwohl er ein Machthaber war. Früher hat man gern Opern über Machthaber komponiert. Walt Disney hatte ganz Amerika im Griff, er war ein Dikator des Geschmacks. Die Musik von Glass ist zudem sehr amerikanisch. Ich fand eine Konfrontation mit diesen beiden Komponenten interessant. Zudem gibt es dieses Buch von dem österreichischen und jetzt in Paris lebenden Schriftsteller Peter Stephan Jungk, worin er eine wunderschöne Geschichte über die sechs letzten Monate im Leben von Walt Disney und über den Kontrast zwischen der von ihm geschaffenen "Dreamworld" und der peniblen Realität seines persönlichen Lebens geschrieben.

...andererseits haben Sie den Komponisten Charles Wuorinen beauftragt, den Film "Brokeback Mountain" in eine Oper zu verwandeln.

Wuorinen kommt aus einer ganz anderen Schule, nahe an Elliot Carter, und wird in Europa leider nicht gespielt. Seine Werke sind sehr schön. Man könnte aus europäischer Sicht sagen, dass er ein Vertreter des klassischen Alban Berg-Modells ist.

Ist die Wahl der Komponisten denn vom Kontinent abhängig?

In Europa würde ich wahrscheinlich mit anderen Leuten arbeiten. Ich mache jetzt eine narrative Oper mit Philippe Boesmans und arbeite seit sieben Jahren mit Hanspeter Kyburz an einer Oper, vor der ich hoffe, sie eines Tages uraufführen zu können. Für mich ist Kyburz einer der größten zeitgenössischen Komponisten.

Zur Person

Gerard Mortier, geboren 1943 in der belgischen Stadt Gent, studierte Jus und Kommunikationswissenschaften, und begann danach, 1968, seine Karriere als Assistent des Direktors des Flandern-Festivals. In den Jahren 1973 bis 1980 leitete er die Betriebsbüros von Christoph von Dohnányi und Rolf Liebermann in Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und Paris. Von 1981 bis 1991 war er als Direktor des Brüsseler Opernhauses "La Monnaie" tätig. Gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Sylvain Cambreling entwickelte er ein neues Opernverständnis. 1990 übernahm Mortier die Intendanz der Salzburger Festspiele, die er bis 2001 innehatte. In dieser Zeit sorgte Mortier wegen der von ihm vertretenen kritischen und innovativen Regieästhetik für heftige Diskussionen.

Danach leitete er als Gründungsdirektor die RuhrTriennale, das internationale Fest der Künste im Ruhrgebiet. Seit 2004 ist er Direktor der Pariser Nationaloper. 2008 bewarb sich Mortier gemeinsam mit Nike Wagner um die Leitung der Bayreuther Festspiele, wurde aber erwartungsgemäß nicht genommen.

Ab der Saison 2009/2010 hätte Gerard Mortier die Leitung der New York City Opera übernehmen sollen, zog diese Bewerbung aber aus finanziellen Gründen zurück. Mortier ist Ehrendoktor der Universität Antwerpen und der Universität Salzburg.

Publikationen:Oper, Schauspiel. Salzburger Festspiele 1992 - 2001, Zsolnay Verlag Wien, 2001, 323 Seiten (zusammen mit Karin Kathrein, Hans Landesmann und Gerhard Rohde);Herbert von Karajan und die Salzburger Festspiele. Dokumentation einer Partnerschaft 1933, 1948, 1957 - 1989, mit einer Einleitung von Joachim Kaiser. Residenz-Verlag, Salzburg 1994, 207 Seiten.