Das Gerechtigkeitsverständnis im aktuellen Regierungsprogramm unterscheidet sich von jenem, das die politische Konkurrenz formuliert. Ein wichtiger Punkt dabei ist die Eigenverantwortung.
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Das Thema der Gerechtigkeit bildet ein breites Einfallstor ins Herz des Wählers. Das aktuelle Regierungsprogramm befasst sich in mehreren Punkten mit dem Thema Gerechtigkeit und verspricht in einem zentralen Kapitel "Fairness und Gerechtigkeit".
In diesen Passagen fällt auf, dass die Anliegen zwar den Wünschen weiter Kreise der Bevölkerung entsprechen, dass damit jedoch Gerechtigkeit in einer Weise definiert wird, die von den üblichen öffentlich kommunizierten Vorstellungen abweicht: Während diese auf Ausgleich von Schwächen, Hilfe für Bedürftige und so weiter abzielen und den Schutzaspekt von Gerechtigkeit hervorkehren, werden hier andere Punkte in den Vordergrund gerückt. Arbeit muss sich lohnen, Leistung als Voraussetzung für Leistungsbezug, der unbedingte Schutz von Bedürftigen an letzter Stelle - das klingt in der Tat nach einem gänzlich anderen Verständnis als jenem, das die politische Konkurrenz formuliert.
Dass Eigenverantwortung eine Forderung der Gerechtigkeit ist, klingt ungewohnt und macht klar, dass diese Schwerpunktverlagerung eine Abkehr von jenen Gerechtigkeitsvorstellungen bedeutet, die die österreichische öffentliche Wahrnehmung der vergangenen Jahrzehnte dominiert hat, und mag dazu beigetragen haben, dass die politische Auseinandersetzung im Wahlkampf emotional entgleist ist. Vielleicht hat die Sozialdemokratie diese Trendwende als expliziten Gegenentwurf und Angriff auf ein traditionell von ihr besetztes und hochgradig emotionales Narrativ gesehen.
Konzepte von Gerechtigkeit
Die Frage nach der Gerechtigkeit dreht sich in der politischen Debatte heute im Wesentlichen um die Frage, was der Einzelne von der Gesellschaft erwarten darf oder in die Gesellschaft einbringen muss, sodass diese als gerecht empfunden wird, hat jedoch die Philosophie in allen Kulturen und zu allen Zeiten beschäftigt. Dabei haben sich Gerechtigkeitskonzepte im Laufe der Zeit massiv verändert und verfeinert. Es haben sich auch immer neue Perspektiven eröffnet.
Im europäischen Kontext stehen nach wie vor die aristotelischen Überlegungen im Kern der Diskussionen: die Unterscheidung von "iustitia distributiva" und "iustitia commutativa" sowie der Zusammenhang von Gleichheit und Gerechtigkeit. Dass Ausgewogenheit in Austauschverhältnissen und Zuteilung von Chancen gerecht sein sollen, ist ebenso unbestritten, wie es freilich unmöglich ist, in allen Details Konsens darüber zu finden, nach welchen Kriterien die Gerechtigkeit beurteilt werden soll. Auch dass Gleichheit als Kern der Gerechtigkeit zu gelten habe, hilft bei der Beantwortung konkreter Fragen nicht viel weiter, weil die Vergleichbarkeit von Situationen ebenfalls in höchstem Maße von wertungsbedürftigen Kriterien abhängig ist.
Gerechtigkeit ist, so gesehen, ein Reflexionspunkt, der zur Argumentation der Legitimität von Entscheidungen und zur Offenlegung der dahinter liegenden Wertungen zwingen soll. Gerade weil sich der Gerechtigkeitsbegriff als gemeinsame Projektionsfläche unterschiedlichster subjektiver Vorstellungen erweist, besteht für die politische Kommunikation die große Versuchung, im Bewusstsein der Bevölkerung bestimmte Sichtweisen von Gerechtigkeit durch ständige Wiederholung als Narrativ zu verankern; gerade deshalb ist es aber auch notwendig und sinnvoll, fest gefügte Verständnisse zu relativieren und auch andere Aspekte von Gerechtigkeit neu zu positionieren.
Angesichts der hochgradigen materiellen Auffüllungsbedürftigkeit des Gerechtigkeitsbegriffs ebenso wie des Gleichheitsbegriffs wäre es nicht nur politisch fatal, sondern auch methodisch inadäquat, wenn sich nur eine einzige Sichtweise von Gerechtigkeit verfestigen würde. Den Inhalt des Gerechtigkeitsbegriffs auf ein bestimmtes Verständnis zu verengen oder gar politisch zu monopolisieren, würde dem Wesen von Gerechtigkeit diametral widersprechen und den Begriff der Gerechtigkeit zur Verfolgung verdeckter Interessen instrumentalisieren.
Gerechtigkeit und Gesetz
Für den politischen Umgang mit dem Gerechtigkeitsbegriff von eminenter Bedeutung wäre, die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit als subjektivem moralischen Postulat und Gerechtigkeit als objektiver normativer Kategorie, die Immanuel Kant aufgezeigt hat, gleichsam wieder zu entdecken und in die Überlegungen einzubeziehen: Sie erkennt an, dass es unzählige unterschiedliche subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen gibt, die für das Verhalten des Einzelnen maßgebend sein können, macht aber deutlich, dass ein Gesetz niemals all diesen Vorstellungen entsprechen kann.
Die Gerechtigkeit eines Gesetzes ist daher anders als bei der moralischen Beurteilung von Individualverhalten zu sehen: Ein Gesetz ist - zumal in einem demokratischen System - dann gerecht, wenn die Regelungen über die politische Partizipation gewährleisten, dass die subjektiven Vorstellungen in den Prozess der demokratischen Willensbildung einfließen können. Damit kann theoretisch jeder seine subjektiven Vorstellungen in den normierenden Akt der Gesetzgebung einbringen, es wird aber deutlich, dass keiner den Anspruch haben kann, dass das Gesetz seinen Vorstellungen entspricht. Die große Herausforderung einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft ist, die immer größer werdende Diskrepanz zwischen den subjektiven Gerechtigkeitsvorstellungen und dem politischen Kompromiss als Tribut an die Demokratie zu bejahen.
Dass die "neue Gerechtigkeit" auch zentrale Aspekte des in den vergangenen Jahrzehnten kommunizierten Gerechtigkeitsnarrativs aufgreift (Chancengerechtigkeit, Schutz für Bedürftige, Bildungsgerechtigkeit), ist ein Indikator dafür, dass es nicht um einen Austausch "alter" Gerechtigkeitsgesichtspunkte durch "neue" geht, sondern um eine Erweiterung der Anerkennung von Positionen, die unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten für legitim und politisch relevant erachtet werden.
Wie viele dieser Positionen sich im parlamentarischen Geschehen in Gesetzen niederschlagen werden, wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, den Vorwurf der Ungerechtigkeit, der von Vertretern eines engeren ("alten") Gerechtigkeitsverständnisses gegenüber neuen Vorschlägen bereits allenthalben erhoben wird, als politisch plump und methodisch unzulänglich zu entlarven. Dem Anliegen der Gerechtigkeit in einer komplexen Gesellschaft würde allerdings ein Bärendienst geleistet, wenn es weiterhin Usus sein sollte, nur die eigenen Positionen als gerecht zu bezeichnen, andere hingegen als ungerecht abzuqualifizieren.