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Gerettet aus dem Krieg, gestrandet am Kanal

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Politik

Das Ziel England ist am Horizont sichtbar. Doch dann geraten hunderte ukrainische Geflüchtete in die Mühlen der britischen Bürokratie und bleiben an einer von Europas berüchtigten Grenzen hängen. Eine Reportage aus Calais.


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Fünf Buchstaben. Mehr braucht Chris Seaward, der gerade mit seinem Hilfskonvoi aus der Ukraine zurückgekommen ist, nicht, um die Haltung seiner Regierung zu kommentieren. "Shame", sagt er knapp. Eine Schande findet er die Sache mit den Visa und dass das Vereinigte Königreich Anfang März mehrere hundert vor dem Krieg in der Ukraine Geflüchtete aus bürokratischen Gründen nicht einreisen ließ. Fehlende Dokumente, ihre Übersetzung ins Englische, Fingerabdrücke - all dies hält noch immer zahlreiche von ihnen in Nordfrankreich fest, vor allem in der Hafenstadt Calais, wo die Fähre nach Dover die kürzeste Verbindung nach Großbritannien ist.

Am Ärmelkanal, über den seit zwei Jahrzehnten eine überaus tödliche Route klandestiner Migration nach Großbritannien verläuft, erfolgt die Grenzkontrolle schon auf der französischen Seite. Und so kommt die in Leuchtwesten gekleidete Border Force nun zum weißen Kleinbus von Chris Seaward, auf dem neben einem Union Jack die ukrainische Flagge aufgeklebt ist, dazu die Aufschrift "Hull to Lviv Humanitarian Aid". Sein Pass wird kontrolliert, der Kofferraum, dann geht es auf die Fähre. Die letzten paar hundert Meilen liegen vor ihm, von insgesamt 3.000, die der Direktor eines Druck-Unternehmens in dieser Woche zurückgelegt hat.

Sehnsucht nach Kontrolle

Am Vortag hatte der Konvoi aus dem nordenglischen Hull das westukrainische Lemberg verlassen, wo man medizinische Ausrüstung in einem Krankenhaus abgeliefert hatte, in dem Kriegsopfer versorgt werden. Organisiert hat dies die britische Wohltätigkeitsorganisation Choose Love. Irgendwo in Polen hat Chris Seaward letzte Nacht ein paar Stunden geschlafen, seither sitzt er wieder hinter dem Lenkrad. Die Frage, ob er einen der Busse fahren würde, kam spontan. Genauso spontan sagte er zu. Die TV- Bilder aus der Ukraine, erzählt er auf der Fähre, hätten ihn zu Tränen gerührt. Dass London jenen, die sich aus dem Krieg gerettet haben, nun ein Labyrinth aus Visa- Bestimmungen in den Weg stellt, will ihm nicht in den Kopf.

Die Titelseite der Wochenzeitung "The Spectator" hatte bereits Mitte März eine bissige Karikatur zu diesem Thema abgedruckt: Ein Pole trägt ein Schild mit der Aufschrift "Witamy", eine Deutsche eines, auf dem "Willkommen" steht, "Vitajte" liest man auf jenem eines Slowaken. Und dann ist da eine Britin, die ein ellenlanges Traktat präsentiert, betitelt mit "Criteria" - Bedingungen zur Einreise. Über der Zeichnung steht der Titel "Border Farce", eine Anspielung auf den britischen Grenzschutz "Border Force".

Das Versprechen, die Kontrolle über die eigenen Grenzen wird zurückbekommen, war ein Leitmotiv der jahrelangen Brexit-Debatte gewesen, das Thema selbst ist aber uralt: Die Furcht vor einer Invasion ihrer Insel sitzt tief in der britischen Psyche. Und Rechtspopulisten bespielen diese Klaviatur so ausführlich wie folgenreich.

Wenn ein Ort für die daraus resultierende Politik symbolisch ist, ist es die Meerenge von Dover. Das steinalte, graue Castle erhebt sich über der Stadt als Vorposten eines Königreichs, das sich zunehmend als Trutzburg sieht. Von den legendären White Cliffs geht der Blick auf den Kanal, die Küstenlinie Nordfrankreichs ist im Hintergrund erkennbar. Von dort kamen in den letzten Jahren mehr und mehr Schlauchboote mit anderen Geflüchteten herüber, Menschen aus dem Iran und dem Irak, aus Afghanistan oder Syrien, was der alten Furcht vor der Invasion, befeuert durch Scharfmacher wie Nigel Farrage, neuen Auftrieb gegeben hat. Die Reaktionen auf die Boote sind heftig. Sogar über Push-backs auf offener See wird nachgedacht.

Streng nach Vorschrift

"Ich denke, es gibt eine Verbindung zwischen der Art, wie Großbritannien mit den Ukrainern umgeht und mit anderen Migranten", sagt Clare Moseley am Telefon. Sie ist die Gründerin der NGO Care4Calais, die sich seit Jahren in den Elendscamps jener Geflüchteter engagiert, die auf Schlauchbooten oder versteckt auf Lkw ihr Leben riskieren. "Die britische Regierung ist sehr reserviert gegenüber Flüchtlingen. Zurzeit wird ein neues Gesetz im Parlament behandelt, das die Zahl derer, denen sie Asyl gewährt, stark beschränkt."

Dass in London nun angekündigt wurde, den Zugang für die Ukrainer zu erleichtern, sei Druck aus der Bevölkerung geschuldet. Dennoch sorge die Visum-Politik weiter für Probleme und Verwirrung. "Die Regierung geht davon aus, dass alle Flüchtlinge Dokumente haben. Aber natürlich haben viele, die vor einem Konflikt fliehen, das nicht. Sie verlieren ihr Gepäck auf der Reise oder mussten vielleicht ihr Zuhause verlassen, ohne richtig packen zu können."

In diesem Frühjahr kümmern sich Freiwillige von Care4Calais auch um die Ukrainer, die an der französischen Kanalküste festsitzen. Zwei von ihnen stehen an einem frischen Nachmittag Mitte März vor der Jugendherberge in Calais, einer spricht Russisch. Wegen der unklaren Situation seien die Flüchtlinge inzwischen über mehrere Orte in Nordfrankreich verteilt, sagt er. In der Jugendherberge gleich hinter dem Strand, einem flachen, grauen Gebäude, sind derzeit noch mehrere Dutzend Flüchtlinge auf Kosten der Kommune untergebracht, meist Familien mit Kindern. Anfang März waren es mehrere hundert. Hinter den Fenstern des Aufenthaltsraums sieht man Mädchen und Buben mit blassen Gesichtern zeichnen oder spielen. Im Foyer stehen auf Tischen Kuscheltiere und andere Spielsachen bereit.

Die Stellwände an der Rezeption zeugen vom Versuch, einen Ausweg aus diesem Gewirr zu schaffen: Man findet die Adresse eines Geschäfts in Calais, das Dokumente kopieren kann; Kontaktdaten von britischen Visa-Stellen in Brüssel und Paris; der Hinweis, dass Züge in Frankreich und der Eurostar nach London für Ukrainer gratis sind; Erklärungen zu den Richtlinien zum Thema Familien- Visum und Links zu den zugehörigen Online-Formularen. Und deutlich sichtbar hängt dort auch ein Zettel auf dem "No visas delivered in Calais" steht, also der Hinweis, dass man in Calais kein Visum bekommt.

Die Familie darf nicht einreisen

Micha Raminishvili ist einer derjenigen, für die es im Hafen von Calais nicht mehr weiterging. Selbst stammt er aus Georgien, lebt aber seit 30 Jahren in England und betreibt in London ein Gerüstbau-Unternehmen. Einen Tag nach Beginn des Kriegs setzte er sich in Essex in seinen geräumigen Jeep. Um durchfahren zu können, bat er einen Freund, ihn zu begleiten. 2.800 Kilometer ging es bis Czernowitz im Südwesten der Ukraine, wo sie seine Frau, Tochter, Sohn und Schwiegervater ins Auto luden. Der Schwiegervater ist 63 - gerade alt genug, dass man ihn aus dem Land lässt. "Viele Leute hatten nicht das Glück, so schnell herauszukommen. Wir tranken nur einen Kaffee und drehten sofort wieder um", berichtet Raminishvili, der eben mit seiner Frau einen Spaziergang unternahm. "Zehn Stunden bis Nürnberg, und dann nochmal zehn bis nach Calais."

Jetzt steht Raminishvili in Jogginghose und dickem Pullover auf dem Parkplatz vor dem Hostel und blickt auf dieses seltsame Zwischenstadium. Seiner Familie gehe es so weit okay, die Kinder hätten aber große Angst gehabt. Den Freund schickte Raminishvili schon vor, zurück nach England, denn schließlich waren ja alle schon in Sicherheit. Er selbst buchte ebenfalls die Tickets für die Fähre, doch am Anleger folgte das böse Erwachen. "Alle anderen Länder in Europa ließen die Flüchtlinge passieren - außer dem, dessen Staatsbürger Micha Raminishvili geworden ist. "Man wollte uns nicht hinüberlassen. Es tut weh, wenn dein Land deine Familie zurückweist", sagt Raminishvili.

Seit dem ersten März sitzt die Familie nun schon am Ärmelkanal fest. Erst in einem Hotel, dann erfuhr sie vom Angebot der Stadt, die Flüchtlinge in der Jugendherberge aufzunehmen. Wie lange dieser Zustand noch dauert? Raminishvili zuckt mit den Schultern. "Morgen habe ich in Brüssel einen Termin bei der Visa-Stelle. Vielleicht sind wir in ein paar Tagen drüben. Aber es kann auch passieren, dass wir in einer Woche immer noch hier warten."