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Gerhard Roth

Von Urs Fitze

Reflexionen

Der deutsche Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth erklärt, wie das menschliche Gehirn funktioniert, welche Fortschritte die Hirnforschung in den letzten Jahren gemacht hat und warum ihn selbst die Beschäftigung | mit dem Geist und dem Denken | so nachhaltig fasziniert.


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Wiener Zeitung:Herr Roth, wie erklären Sie einem Laien das Gehirn?Gerhard Roth: Äußerlich hat es die Form einer großen, zweigeteilten Walnuss, die starke Furchen aufweist. Mit einem Gewicht von 1,4 Kilo ist das Gehirn schwerer, als man es von einem großen Säuger, der der Mensch ja ist, eigentlich erwarten würde.

Hat der Mensch, bezogen auf sein Gewicht, damit das größte Gehirn aller Lebewesen?

Nein, da liegt die Spitzmaus vorne, deren Gehirn ein Zehntel ihres Körpergewichtes ausmacht. Beim Menschen sind es zwei Prozent, bei einem Schimpansen etwa eines, bei einem Blauwal 0,01 Prozent der Körpermasse.

Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass die Spitzmaus mehr Gehirnschmalz benötigt als der Mensch.

Nein, das wäre ein Trugschluss. Die Spitzmaus ist ja ein nur wenige Gramm wiegendes Tier, und die vergleichsweise sehr große Gehirnmasse ist einfach das Minimum, das kleine Lebewesen mit einem so komplexen Verhalten wie die Spitzmaus brauchen.

Gibt es, abgesehen von der Masse des Gehirns, signifikante Unterschiede zwischen den Menschen und anderen Säugetieren?

Nimmt man die Zahl der Nervenzellen in der Großhirnrinde zum Maßstab, sind die Unterschiede eklatant. Der Mensch erreicht eine Zahl von rund zwölf Milliarden, ein Pottwal mit seiner um ein Vielfaches größeren Gehirnmasse bringt es auf rund elf Milliarden. Was den Menschen außerdem auszeichnet, ist die Fähigkeit zur höheren Effizienz. Die menschlichen Nervenfasern sind kürzer und wesentlich dicker. Das heißt, die Nervenzellen können wesentlich schneller, etwa um den Faktor sechs, kommunizieren. Und das ist für die Arbeit des Gehirns das A und O.

Kann man das Gehirn mit einem Computer vergleichen?

Nur sehr bedingt. Am ehesten trifft das noch auf die Großhirnrinde zu, die sich als assoziative Festplatte mit praktisch unendlicher Speicherkapazität beschreiben lässt. Anders als bei einer Computer-Festplatte werden die Daten aber nicht einfach abgelegt, sondern so verknüpft, dass Zusammenhänge und Sinn entstehen. Und während ein Personal Computer von einem zentralen Prozessor angetrieben wird, arbeiten im Gehirn Millionen von Prozessoren parallel, also gleichzeitig. Die sind für sich genommen zwar viel langsamer, als Einheit aber um ein Vielfaches schneller.

Und wie arbeitet das Gehirn?

Es gibt im Wesentlichen fünf Netzwerke, die sich mit Wahrnehmung, Begreifen, Empfinden, Motivation und Bewegung beschäftigen. Diese Netzwerke sind eng miteinander verknüpft, aber gleichzeitig so deutlich voneinander unterschieden, dass wir Neurobiologen sie erkennen und unterscheiden können.

Wie arbeitet ein Neurobiologe?

Nun, wir sind Naturwissenschafter und gehen davon aus, dass im Gehirn dieselben Naturgesetze gelten wie überall. Wir versuchen einerseits, mit bildgebenden Verfahren am Kernspintomographen direkt ins Gehirn zu schauen - das macht man vornehmlich beim Menschen, und versuchen andererseits, mit Experimenten an Gehirnen von Versuchstieren zu verstehen, wie Nervenzellen funktionieren.

Wie muss man sich das praktisch vorstellen?

Man setzt eine winzige Elektrode an die Nervenzellen an. Dann kann man anhand der elektrischen Aktivität messen, wie eine Zelle auf bestimmte Reize reagiert. Am Kernspintomographen können wir Millionen oder gar Milliarden Nervenzellen bei der Arbeit zusehen und beobachten, welche Bereiche bei bestimmten Tätigkeiten aktiv sind.

Wo liegen die Grenzen der Forschung?

Wir erfassen das Gehirn als Ganzes, beziehungsweise Teile davon immer besser. Auch verstehen wir die einzelnen Zellen und ihre Funktionen inzwischen gut. Noch nicht einmal wirklich am Anfang sind wir hingegen bei der Frage, wie die vielen Milliarden Zellen im Gehirn innerhalb kleinerer oder größerer Netzwerke miteinander kommunizieren. Das ist mit der heute verfügbaren Technik nur sehr indirekt machbar.

Können Sie mit neurobiologischen Verfahren feststellen, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht?

Grundsätzlich ist das möglich. Bei der derzeit verfügbaren Technik gibt es allerdings Einschränkungen. Da muss jemand schon lügen, dass sich die Balken biegen. Das lässt sich dann an der Aktivität verschiedener Hirnzentren ablesen. Eine harmlose Notlüge hinterlässt zu wenig sichtbare Spuren.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Die Hirnforscher durchmessen seit Jahrzehnten das Gehirn. Dabei sind sowohl Messmethoden als auch Verfahren immer mehr verfeinert worden. Heute sind wir auf einem Stand angelangt, der es uns erlaubt, einen bestimmten Prozess im Gehirn genau zu lokalisieren und darüber hinaus Aussagen über Verknüpfungen mit anderen Arealen des Gehirns zu machen.

Wenn wir beim Beispiel der Lüge bleiben, dann zeigt sich bei dem Vorgang, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt, im Gehirn ein Muster, das wir heute lesen und bis zu einem gewissen Grad auch verstehen können. Dazu gehört zum Beispiel die Aktivierung oder Nicht-Aktivierung des sogenannten autobiographischen Gedächtnisses.

Das wäre also der perfekte Lügendetektor.

So weit sind wir noch nicht, auch wenn tatsächlich entsprechende Produkte schon angepriesen werden. Sie arbeiten auch deutlich genauer als herkömmliche Geräte. Aber bis zum Lügendetektor, mit dem sich mit größter Sicherheit sagen lässt, ob jemand gerade lügt oder nicht, braucht es noch einige technische Entwicklungsschritte und sehr viel weitere Forschung.

Aber Sie halten eine solche Maschine für machbar?

Ja. Durchaus. Das sage ich aus der Erkenntnis der Fortschritte heraus, die die Hirnforschung in den vergangenen zwanzig Jahren gemacht hat. Wir verstehen heute viel, viel besser, was im Gehirn vor sich geht. Aber wir sind noch weit davon entfernt, das Gehirn zur Gänze entschlüsselt zu haben. Was fehlt denn noch?

Die Technik halte ich für weitgehend ausgereift. Mit den bildgebenden Verfahren und speziellen Auswertungsprogrammen erreichen wir eine Auflösung des Gehirns im Bereich von einem Drittel Millimeter. Das wäre grundsätzlich ausreichend. Aber wir haben bei der Analyse und Interpretation der gewonnenen Daten noch einiges an Entwicklungsarbeit vor uns.

Werden Maschinen dereinst auch unsere Gedanken lesen können?

Davon bin ich überzeugt.

Das hieße dann aber, nicht nur die Tatsache, dass jemand lügt, ließe sich erfassen, sondern auch der eigentliche Inhalt dieser Lüge?

Im Prinzip ja. Wir können heute immerhin schon sagen, ob jemand schöne oder furchterregende Vorstellungen hat.

Sie Sagen: Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt des Gehirns. Was bedeutet diese Erkenntnis für das Selbstbild von uns Menschen?

Das ist ja eine letztlich triviale Erkenntnis, die sich schon aus dem Gedanken ableiten lässt, dass wir unsere Umwelt nur über unsere Sinne und die anschließende Arbeit des Gehirns, also nur über Umwege wahrnehmen können. Viel spannender ist die Frage, in welchem Verhältnis die konstruierte Realität zu der konkreten Wirklichkeit steht. Und da lässt sich sagen, dass das Gehirn die Welt so darstellt, dass wir darin überleben können. Denn dazu ist letztlich jedes Lebewesen auf der Erde bestimmt. Ein Strudelwurm muss dabei auf eine weniger komplexe Wirklichkeit reagieren als ein Mensch, der etwa auch noch wahrnehmen muss, was hinter seinem Rücken vorgeht oder geplant wird, um adäquat handeln zu können.

Wer entscheidet also? Das Gehirn oder der Mensch als dessen Träger?

Das ist die vielleicht wichtigste Frage in diesem Zusammenhang. Nach allem, was wir heute aus der Hirnforschung wissen, spielt das Gehirn die entscheidende Rolle, und zwar in einer Art und Weise, die vom freien Willen des Menschen, wie ihn viele Philosophen definiert haben, nicht mehr allzu viel übrig lässt. Damit meine ich weniger die in vielen Experimenten nachgewiesene verzögerte Wahrnehmung einer Entscheidung, die uns bloß glauben macht, wir hätten entschieden.

Dabei hat das Gehirn autonom diese Entscheidung schon vorweg genommen, ohne dass wir uns dessen bewusst geworden wären. Doch solche klaren Aussagen lassen sich zuverlässig nur bei einfachen und weitgehend automatisierten Vorgängen treffen. Bei komplexeren Handlungen, wie etwa beim Lügen, sind auch die Aktionen im Gehirn komplizierter, zum Beispiel beim bewussten Nachdenken über Alternativen. Doch auch da ist der freie Wille, wie er etwa im Strafrecht als Voraussetzung für eine Entscheidung gilt, letztlich eine Illusion, denn auch unsere komplexen, bewussten Entscheidungen werden von unseren Motiven und den ihnen entsprechenden Hirnvorgängen festgelegt.

Dann kann man eine Straftat nicht aus freiem Willen begehen?

Wenn es um schwere Gewaltverbrechen wie Mord oder Triebtaten geht, ist aus neurobiologischer und psychologischer Sicht der Nachweis dafür wohl erbracht. Wenn neben der genetischen Disposition auch verschiedene entwicklungspsychologische Negativ-Faktoren vorhanden sind, etwa Gewalterfahrung und andere Traumatisierung als Kind oder starke Vernachlässigung, lässt sich heute mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen, dass jemand zum Gewaltverbrecher wird, falls er nicht rechtzeitig eine Therapie erhält. Bei weniger schweren Delikten, etwa einem Steuervergehen, ist eine solche Aussage allerdings nicht möglich. Dazu sind die entsprechenden Vorgänge im Gehirn zu "unauffällig".

Aber wenn es keinen freien Willen gibt, kann es auch keine Bestrafung geben.

Im herkömmlichen Sinne als Sühne für eine moralische Schuld ist das angesichts dieser Forschungsergebnisse nicht möglich. Das ist aber auch keine wirklich neue Erkenntnis. Schon lange wird in der Rechtswissenschaft darüber diskutiert, ob das Konzept einer moralischen Strafe tauglich ist. Aber wenn wir davon ausgehen, dass es ein gesamtgesellschaftliches Interesse an Normen gibt, die für alle gleichermaßen gelten, sind Schuld und Bestrafung keineswegs sinnlos. Nur müssten die Maßnahmen viel stärker einen erzieherisch-belehrenden als abstrafenden Charakter haben. Und, was noch viel wichtiger ist, wir brauchen dringend ein System der Früherfassung, am besten schon im Kindesalter. Das sind wir nicht nur der Gesellschaft und den Opfern, sondern auch den Tätern schuldig.

Glauben Sie an Gott?

Ich habe die neutrale Haltung des Agnostikers. Die Existenz Gottes lässt sich mit den Mitteln der Wissenschaft nun einmal nicht beweisen, aber auch nicht ausschließen.

Widersprechen Sie damit nicht der Erkenntnis Ihrer eigenen Forschung?

Nein. Ich kann einfach nicht ausschließen, dass es Gott gibt. Der Glaube an Gott ist eine rein subjektive Erfahrung.

Lässt sich die Existenz Gottes aus der Funktionsweise des Gehirns heraus erklären? Nein, denn aus dem Nachweis von Hirnzentren, die beim Denken an Gott aktiv sind, folgt ja nicht, dass es Gott gibt. Allerdings gibt es begriffliche Widersprüche beim traditionellen Bild von Gott: Wie schon Augustinus und später Luther festgestellt haben, bringt uns die Vorstellung von Gott als Verkörperung eines allumfassenden Wissens in einen ständigen Widerspruch. Denn im Wissen um die göttliche Allmacht müsste Gott uns ja auch befähigen, in seinem göttlichen Sinne immer gut zu handeln. Doch das tun wir bekanntlich nicht. Das erinnert an das Bild vom Vater, der dem Kind Dinge erlaubt oder verbietet, ohne wirklich zu begründen, weshalb. Vielleicht sagt er uns, wir würden das später verstehen, wenn wir erwachsen sind. So ähnlich verhält sich, im übertragenen Sinne, auch unser Gehirn.

Ihre These, wonach der Mensch ein determiniertes, also vorbestimmtes Wesen ist, stößt auf starken Widerspruch. Einer ihrer Kritiker, ein Strafrechtler, meint etwa, die Neurobiologie sei eine noch nicht erwachsene Wissenschaft, die man deshalb nicht wirklich ernst nehmen könne. Ein anderer schreibt, Ihre These beschränke sich im Kern auf die Aussage, dass der Mensch ohne Gehirn gar nicht existiert. Was entgegnen Sie darauf?

Ich wundere mich immer wieder, wie wenig Sachkenntnis manche Kritiker mitbringen. Der gewaltige Erkenntnissprung in der Neurobiologie scheint manche zu überfordern. Andere, so mein Eindruck, empfinden eine Art Bedrohung, weil bestimmte Vorstellungen, die wir uns vom Gehirn machen, sich mehr und mehr als unhaltbar erweisen. Dafür habe ich Verständnis. Aber letztlich zählen für mich die in vielen Experimenten bestätigten Fakten.

Weshalb sind Sie seinerzeit von der Geistesin die Naturwissenschaft gewechselt?

Mich hat die Frage, was Bewusstsein, Geist und das Denken ausmacht, schon immer sehr beschäftigt. Es ist mein Lebensthema. Die Philosophie hat auf meine Fragen aber keine stringenten Antworten. Deshalb habe ich mich für die Naturwissenschaft entschieden.

Sind Sie damit einer Antwort näher gekommen?

Ein wenig sicher. Aber das liegt vor allem daran, dass die Naturwissenschaft rein empirisch und mit großer Sachlichkeit an das Thema herangeht.

Was ist der Geist?

Als Neurobiologe kann ich soviel feststellen: Das, was wir als Geist wahrnehmen, hat eindeutig einen physiologischen Hintergrund, der sich entsprechend innerhalb der Naturgesetze abspielt. Man kann in diesem Rahmen sogar das Entstehen des subjektiven, bewussten Erlebens erklären. Mit Sicherheit falsch sind alle Annahmen, dass der Geist oder das subjektive Wahrnehmen quasi abgekoppelt vom Gehirn seien.

Und der freie Wille?

Den freien Willen, den wir im alltäglichen Leben kennen, gibt es durchaus. Ich kann hier und jetzt entscheiden, ob ich diesen Raum verlasse oder ob ich lieber hier sitzen bleibe. Wir merken entweder nichts von den Vorgängen und Faktoren, die unseren Willen bestimmen, oder wir merken sie, und es macht uns nichts aus. Wenn jeder so handelt, wie seine Persönlichkeit und sein aktueller Wille es festlegen, dann handelt er frei, obwohl er im objektiven Sinne vorbestimmt ist.

Zur Person

Gerhard Roth, geboren 1942 in Marburg/Lahn, studierte zunächst Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie. 1969 beendete er sein geisteswissenschaftliches Studium mit einem Doktorat in Philosophie. Danach schloss er das Studium der Biologie an und erwarb einen zweiten Doktortitel in der Zoologie.

Seit 1976 ist Gerhard Roth als Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen tätig und seit 1989 fungiert er als Direktor des dortigen Institutes für Hirnforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Neurobiologie und Neurophilosophie.

Gerhard Roth ist Mitglied der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, und seit 2003 Präsident der "Studienstiftung des Deutschen Volkes", einer sehr renommierten Institution zur Förderung hochbegabter Nachwuchswissenschafter. Mit seinen viel diskutierten Thesen zur begrenzten Willensfreiheit und - darauf aufbauend - zur eingeschränkten Schuldfähigkeit von Verbrechern ist Gerhard Roth einer der profiliertesten Vertreter der Hirnforschung.

Publikationen (Auswahl):

Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Suhrkamp, Frankfurt 8. Auflage 2000.

Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp, Frankfurt 2003.

Aus Sicht des Gehirns. Suhrkamp, Frankfurt 2003.

Das Gehirn und seine Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2006. (Herausgeber, zusammen mit Klaus-Jürgen Grün).

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Klett-Cotta, Stuttgart 2007.