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Der Kulturwissenschafter und Islam-Kenner Gerhard Schweizer über islamische Mystik und mögliche neue Perspektiven für einen Dialog der Religionen und Kulturen
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Wiener Zeitung:Herr Schweizer, im Titel Ihres jüngsten Buches bezeichnen Sie die islamische Mystik, den Sufismus, als "die religiöse Herausforderung". Nun haftet aber der Mystik heute aus aufgeklärter und abgeklärter mitteleuropäischer Sicht eher etwas Negatives an. Mystik wird tendenziell mit religiöser Schwärmerei, ja mit anti-rationalistischer Frömmelei gleichgesetzt. Wen kann solches noch herausfordern? Und wodurch?Gerhard Schweizer: Wir brauchen uns nur den boomenden Esoterik-Markt mit seiner anti-rationalistischen Interpretation von "Mystik" anzusehen, und schon sind wir der Versuchung ausgesetzt, alles "Mystische" herablassend zu beurteilen. Aber wir sollten nicht das gängige Marktangebot der Esoterik mit den eigentlichen Intentionen der Mystik verwechseln. In meinem Buch versuche ich am Beispiel des Sufismus zu zeigen, dass die Mystik gerade in Epochen großer religiöser und weltanschaulicher Umbrüche eine außerordentlich wichtige Funktion bekommen kann.
Was heißt das konkret?
Mystiker gewinnen durch Meditation die intensivste religiöse Erfahrung - und diese halten sie für umfassender und tiefer als die begrifflich dogmatisch fixierte Wahrheit der Theologen und Philosophen. Es ist eine Erfahrung jenseits aller Sprache. "Worte bleiben an der Küste" , lautet entsprechend eine Sufi-Weisheit. In der mystischen Religiosität der Sufis und Derwische spielen begrifflich dogmatische Gegensätze keine Rolle. Der Streit über Dogmen, der bis zu Glaubenskriegen führen kann, soll durch eine alternative Form der Religiosität überwunden werden.
Gab es während Ihrer ausgedehnten Reisen in den Orient Schlüsselerlebnisse, die Ihre Neugier weckten?
Oh ja. Ich denke zum Beispiel an ein Erlebnis in einem Derwisch-Mausoleum der türkischen Stadt Aksehir. Ich wurde eingeladen, an einer Zeremonie teilzunehmen - und wurde als Nichtmuslim rituell voll integriert. Noch überraschender war für mich ein Erlebnis in der sufischen Pilgerstadt Ajmer, die man das "Mekka Indiens" nennt. Dort, im zentralen Heiligtum der Chisti-Derwische, wurde ich ganz selbstverständlich von einem Sufi gesegnet und in die Zeremonien einbezogen. Mein Begleiter, ein Hindu, erhielt ebenfalls den Segen. Auf meine Frage bekam ich die Antwort, in diesem Heiligtum würden alle Religionen als gleichwertig angesehen. Eine solche Haltung steht in starkem Kontrast zu den religiös-politischen Spannungen zwischen Muslimen und Hindus in Indien. Hier machte ich erstmals die Erfahrung, wie positiv sich die Religiosität von sufischen Pilgern auf das friedliche Zusammenleben sehr unterschiedlicher Religionen auswirkt.
Sie porträtieren in Ihrem Buch eine Reihe herausragender muslimischer Mystiker. Besonders ausführlich stellen Sie Celaleddin Rumi vor. Was ist das Beispielhafte und ungewöhnlich Kühne an ihm?
Rumi ist wohl der bei uns berühmteste muslimische Mystiker. Sein Bekanntheitsgrad im Westen ist aber oft nur damit verbunden, dass er seine Meditation mit ritueller Musik und Tanz steigerte. Auf ihn geht die Mevlevi-Bruderschaft zurück, die bei uns im Westen unter dem Namen "Tanzende Derwische" geläufig wurde. Übrigens wissen oft auch viele Muslime nur Vages über den Sufismus, etwa über mystische Ek-stasepraktiken oder vielleicht auch, dass Sufis und Derwische eine eher ketzerische Religiosität leben. In vielen Ländern der islamischen Welt wird das Wissen über Sufismus sogar gezielt unterdrückt, eben weil diese Mystik als Herausforderung für den sogenannten allein wahren Glauben betrachtet wird.
Doch das eigentlich Aufregende ist bei Sufis wie Rumi der spirituelle Hintergrund, die philosophisch begründete Mystik, weil sie uns so verblüffend modern erscheint. Hier wird Sufismus zur religiösen Herausforderung - sowohl für die Muslime selber als auch für uns im Westen.
Sie sagen "modern". Dabei hat dieser Mystiker doch im 13. Jahrhundert gelebt...
Rumi wurde 1207 geboren. Im kommenden September feiert die islamische Welt seinen 800. Geburtstag. Aber Rumi hat mit seinen Gedanken weit über die eigene Epoche hinausgewiesen. Bei ihm ist das, was wir "Gott" nennen, nicht festgelegt auf ein personales Wesen. Das mystische "Er", das Rumi anspricht, hat nichts mit dem dogmatisch definierten Gott zu tun, der außerhalb des Menschen autonom in einer jenseitigen Welt lebt. Das mystische "Er" ist nur im Menschen selber, "im eigenen Herzen", zu finden - als eine Kraft, die nicht mit Worten zu erfassen, sondern nur in der Meditation als eine apersonale Größe erfahrbar ist. Das heißt: "Gott" existiert nur insoweit, als der Mensch "Ihn" in sich selber erlebt. So gesehen, existiert die tiefste religiöse Wahrheit nicht unabhängig vom menschlichen Bewusstsein.
Das mutet in der Tat verblüffend modern an. In Rumis Gedichten ist ja des öfteren vom Licht der Vernunft wie auch von den Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit die Rede, darüber hinaus von der Notwendigkeit zu unbedingter Toleranz allen Glaubensformen gegenüber. Ist Rumi gar ein früher Aufklärer?
Auf den ersten Blick scheint es so. Rumi hat mit den Aufklärern unserer Moderne zumindest eine Parallele: Auch er ist der Meinung, dass keine Religion und Weltanschauung die absolute Wahrheit für sich beanspruchen kann, sondern jedes Dogma an die begrenzte menschliche Sinneswahrnehmung gebunden bleibt. Insofern rücken für Rumi alle Religionen wie auch Philosophien gleichwertig auf eine Ebene der Unvollkommenheit. Aber was den Mystiker Rumi vom Rationalismus der modernen Aufklärung trennt: Für ihn verschwinden im Stadium höchster Meditation die Gegensätze. Er glaubt daran, dass die Mystiker der unterschiedlichsten Religionen letztlich die gleiche Erfahrung des "Göttlichen" jenseits aller Worte, Begriffe und Bilder machen.
Sie stellen in Ihrem Buch sufische "Ketzer" mit teilweise noch radikaleren Gedanken als Rumi vor. Wollen Sie einige Positionen skizzieren?
Geistig eng verwandt mit Rumi ist sein Zeitgenosse Ibn al-Arabi. Von ihm stammt ein Gedicht, das zu meinen sufischen Lieblingsgedichten gehört: "Wer den Blitz im Osten aufleuchten sieht, dürstet nach dem Osten. / Wenn dieses Licht für einen anderen im Westen scheint, möge er nach dem Westen dürsten. / Ich begehre das Funkeln des Blitzes / und nicht die Orte, die er streift." Für den Mystiker Ibn al-Arabi sind demnach nicht die an Orte und Kulturen gebundenen Religionen und Weltanschauungen maßgebend, sondern die universal gültige mystische Erfahrung, eben das überall gegenwärtige "Funkeln des Blitzes". In einem anderen Text sagt Ibn al-Arabi, man solle sich nicht an eine bestimmte Bekenntnisformel binden. Denn die eigene Seele sei der Urstoff für die Formeln aller Glaubensbekenntnisse. Gott sei umfassender und größer als die dogmatisch fixierte Vorstellung von "Gott" in irgendeiner heiligen Schrift - umfassender auch als der im Koran definierte Gott.
Widersprechen derartige Aussagen nicht radikal dem orthodoxen Glaubensverständnis?
Doch. Und ich habe in meinem Buch noch andere solche Mystiker ausführlich analysiert: etwa Hallaj, Bayasid Bistami, Omar Chaijam, Yunus Emre, Kabir, Inayat Khan.
Aber solche Mystiker haben doch nicht ihre geistige Verwurzelung im Islam in Frage gestellt? Oder etwa doch?
Ich habe etliche muslimische Mystiker kennengelernt, die sich ganz im Sinne von Rumi, Ibn al-Arabi und Hallaj äußerten. Alle haben sie betont, sie würden den traditionellen Nährboden ihrer Religion mit den dazugehörigen sozialreligiösen Geboten benötigen. Alle verstehen sie sich als Muslime. Es handle sich hier um zwei verschiedene Ebenen des Religiösen. Die Sufis unterscheiden zwischen "Schale" und "Kern" der Religion. Unter "Schale" verstehen sie die orthodoxen Glaubensformen bis hin zu den Gesetzen der Scharia, unter "Kern" die grenzüberschreitende Erfahrung des Sufismus. Von Rumi stammt der bildhafte Vergleich: "Ich bin wie ein Zirkel. Während ich mit einem Bein fest in der Scharia verankert bin, durchstreife ich mit dem andern Bein 72 Religionsgemeinschaften."Stufen Sufis demnach Orthodoxie und mystische Erfahrung gleichwertig ein?
Ein Mystiker wie Rumi ist von der Einsicht geleitet, dass alle Glaubensformen relativ wahr seien und nur verschiedene Sichten der allumfassenden Wahrheit repräsentierten. Er vertritt die Ansicht, jedem Menschen solle die ihm gemäße Form des Glaubens offenstehen. Er lehnt daher die Orthodoxie nicht ab, erst recht wäre es für ihn undenkbar, sie zu bekämpfen. Allerdings lässt Rumi keinen Zweifel daran, dass die universale religiöse Erfahrung allein durch mystische Religiosität gewonnen werden kann. So formuliert er wieder sehr bildhaft: "Solange die Frucht unreif ist, bleibt sie besser in der Schale. Wenn sie aber reif ist, schadet ihr die Schale. Für einen Vogel, dem im Ei Flügel wachsen, ist die Schale ein Gefängnis."Bedeutet nicht schon eine derartige Bewertung der Orthodoxie eine Ketzerei?
Das hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Es gibt zahlreiche orthodoxe Muslime, die den Sufismus insgesamt als Ketzerei, ja als "Unglauben", als "unislamisch" bezeichnen. So denken besonders Vertreter eines wahhabitischen Islam, ja überhaupt radikale Fundamentalisten. Orthodox Gläubige mit liberaler Tendenz äußern sich oft differenzierter. Das gilt für eine Reihe Gelehrter an der Al-Azhar-Universität in Kairo, aber auch für Mohammed Khatami, den ehemaligen Staatspräsidenten des Gottesstaates Iran.
Wie der Islam insgesamt sich in eine Vielfalt unterschiedlicher Richtungen auffächert, so gibt es auch nicht den einen Sufismus. Sie unterscheiden nachdrücklich zwischen Einheits- und Personenmystik. Worin liegt der grundsätzliche Unterschied?
Die Sufis, von denen wir bisher gesprochen haben, sind Vertreter einer Einheitsmystik. Sie glauben, dass das allumfassend Göttliche allein in der Seele des Menschen zu finden ist und mit dem Ich eine untrennbare Einheit bildet. Daneben gibt es aber die Vertreter einer Personenmystik. Diese Sufis betonen zwar die Sehnsucht nach einer Einheit mit Gott oder dem Göttlichen, halten aber den dualistischen Gegensatz zwischen dem personalen Schöpfergott und seinem menschlichen Geschöpf für unaufhebbar. Sie schrecken davor zurück, die uns vertraute Gottesvorstellung des Personalen hinter sich zu lassen. In diesem Zusammenhang habe ich in meinem Buch die Mystiker Junaid, Ghasali und Naqshband ausführlich dargestellt. Naturgemäß tun sich orthodoxe Muslime leichter, eine Personenmystik zu akzeptieren, weil diese mit ihrem Glauben an einen personalen Schöpfergott leichter vereinbar ist.
Was fasziniert eigentlich Sie persönlich, der sich als Agnostiker bezeichnet, am Sufismus?
Die intellektuelle Ebene der Erkenntniskritik. Im Grunde hebelt der Sufismus den Absolutheitsanspruch der Orthodoxie aus oder relativiert ihn zumindest. In dieser meines Erachtens entscheidenden Frage gehen die sufischen Denker mit der Aufklärung parallel. Den "Wallfahrtssufismus" hingegen, wie man ihn vielerorts etwa in Indien oder Pakistan, Ägypten oder Marokko erleben kann, empfinde ich zwar als etwas sehr Malerisches und Exotisches, das man schön fotografieren und ethnografisch beschreiben kann - durchaus faszinierend, aber intellektuell interessiert es mich nicht.
Apropos Wallfahrten: Viele Begründer sufischer Bruderschaften werden als Heilige verehrt. Ihre Gräber sind Pilgerziele für Millionen Gläubige, die dort auf Segen, Fürbitte und Wunder hoffen. Trägt nicht ein solch frömmelnder Volksislam zur Breitenwirkung und Vitalität des Sufismus mehr bei als seine hochgeistig philosophischen Konzepte?
So ist es. Und ein solcher Volksislam wird von den meisten Muslimen am stärksten wahrgenommen. Entsprechend kritisieren viele Muslime teilweise heftig die Wallfahrtspraxis mit all ihren bedenklichen Begleiterscheinungen, dem Heiligenkult, dem Aberglauben, der Geschäftemacherei. In dieser Kritik sind sich modern gesinnte Reformer nicht nur mit strenggläubigen orthodoxen Muslimen einig, sondern auch mit Fundamentalisten.
Ist also der sufische Volksislam eher negativ zu bewerten?
Zumindest die hier angesprochenen Tendenzen. Er zeitigt aber auch sehr positive Auswirkungen. Und die wären?
Ich habe bereits einige meiner Schlüsselerlebnisse in Pilgerzentren erwähnt. Pilgern, die beispielsweise Rituale gemeinsam mit Andersgläubigen vollziehen, liegt es fern, sich im Alltag schroff gegen Andersgläubige und Andersdenkende abzugrenzen. Mystische Religiosität bietet hier - auch ohne spezielle Kenntnis schwieriger mystischer Gedichte - eine wesentliche Barriere gegen Intoleranz.
Tanzende Derwische sind längst Ikonen des Tourismus, werden als Sympathieträger und Symbole eines sublimen Islam vermarktet. Trotzdem ist deren Bruderschaft, wie alle anderen auch, seit Atatürks Zeiten in der Türkei verboten. Das erscheint als ein Widerspruch. Wie ist dieser zu erklären?
Viele Bruderschaften sind im Lauf der Jahrhunderte in Verstrickung von Macht und Besitz geraten, haben ihre sufischen Ideale verraten. Im Osmanischen Reich war entscheidend, dass die meisten Derwisch-Bruderschaften mit der feudalistischen Herrschaft der Sultane paktierten und Reformen verhinderten. Sie leisteten nach dem Zusammenbruch des Reiches gegen die säkulare Reformpolitik Atatürks heftigen Widerstand. Die Naqshbandi-Bruderschaft hat 1925 gar einen blutigen Aufstand gegen die Republik entfacht. Daher das Verbot durch Atatürk.
Im letzten Drittel Ihres Buches gehen Sie ausführlich auf die Niedergangserscheinungen und politischen Krisen des Sufismus ein. In diesem Zusammenhang schildern Sie auch die ambivalente Rolle der Naqshbandi in der aktuellen türkischen Politik.
Diese Bruderschaft existiert in der Türkei bis heute, getarnt in Form verschiedener "Kulturvereine". Sie mobilisiert Wählerstimmen für Parteien, die konservativ islamisch oder gar islamistisch sind. Recep Tayyip Erdogan, der gegenwärtige Ministerpräsident, hat Kontakte zu entsprechenden "Kulturvereinen", ebenso gilt dies für Necmettin Erbakan, der 1996/97 Ministerpräsident mit stark islamistischer Ideologie war. Die Naqshbandi-Bruderschaft hat außerhalb der Türkei in vielen Ländern der islamischen Welt einen noch viel größeren Einfluss, ja gehört weltweit zu den populärsten Bruderschaften. Aber diese Entwicklung hat nichts mit jener grenzüberschreitenden Toleranz des Sufismus zu tun, über die wir vorhin gesprochen haben. Sympathisanten der Naqshbandi-Derwische grenzen sich scharf gegen sufische "Ketzer" wie Hallaj, Ibn al-Arabi und andere ab.
Sie bezeichnen es als Problem, dass sufische Philosophen bisher vorwiegend durch westliche Orientalisten, aber kaum durch Bildungseliten in Ländern der islamischen Welt rezipiert wurden. Gibt es unter Muslimen Anzeichen für ein Erwachen kritisch-intellektueller Selbstbesinnung?
Ja, in der Türkei, in Ägypten, im Iran wie auch in Pakistan und Indien. Aber in diesen Staaten sind Angehörige der Bildungsschicht mehr oder weniger durch politische oder religiöse Zensur eingeengt. Freies und schöpferisches Denken kann sich dort nicht voll entfalten. Besser steht es für muslimische Zuwanderer in Westeuropa. Im Rahmen einer demokratisch und pluralistisch geordneten Gesellschaft haben Muslime einen viel freieren Zugang zu Literatur, die sich kritisch mit religiöser Orthodoxie wie auch mit dem religiös grenzüberschreitenden Sufismus auseinandersetzt. Entsprechend lernen Muslime die unorthodoxe Philosophie eines Rumi oder Ibn al-Arabi eher bei uns im Westen als in ihren Herkunftsländern kennen. Auch dies ist ein geistiges Ergebnis des sogenannten Euro-Islam.
Sehen Sie Berührungspunkte zwischen mystisch orientierten Christen und Muslimen?
Allerdings. Ich nenne nur ein Beispiel. Bei Rumi ist ja zu lesen: "Willst du zum Kern gelangen, musst du die Schale zerbrechen." Nahezu wortgleich hat dies im 14. Jahrhundert Meister Eckhart formuliert, der wohl bedeutendste christliche Mystiker deutscher Sprache. Auf einer Ebene des Grundsätzlichen lassen sich strukturelle Gemeinsamkeiten in der Mystik aller Religionen feststellen. Die Mystik tendiert dazu, den Absolutheitsanspruch jeder religiösen Dogmatik zu relativieren. Die "Unwissbarkeit Gottes" ist ein definierendes Prinzip der Mystik jeder Religion - und gerade dies entspricht der modernen Erfahrung unserer zutiefst pluralistisch gewordenen Kultur. Aber ob nun Christ oder Muslim: Solch mystisch Gläubige wenden sich meist nicht von ihrer angestammten Religion ab. Sie möchten viel eher innerhalb dieser eine undogmatische und lebendige Form von "Spiritualität" leben können.
Zur Person
Gerhard Schweizer wurde 1940 in Stuttgart geboren. Er promovierte an der Universität Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft. Seit über 30 Jahren lebt er, wenn er nicht gerade auf Reisen ist und Material für neue Reportagen und Bücher sammelt, als freier Schriftsteller in Wien. Er ist einer der führenden Experten für die Analyse der Kulturkonflikte zwischen Ost und West, zwischen Orient und Okzident, und gilt als ausgewiesener Kenner der islamischen Welt. Über den arabischen, aber auch asiatischen Raum hat er etliche Bücher veröffentlicht: "Islam und Abendland. Geschichte eines Dauerkonflikts", "Ungläubig sind immer die anderen. Weltreligionen zwischen Toleranz und Fanatismus", "Zeitbombe Stadt. Die weltweite Krise der Ballungszentren", "Indien & China. Asiatische Wege ins globale Zeitalter", "Syrien. Religion und Politik im Nahen Osten" und, bereits in 5. Auflage, "Iran. Drehscheibe zwischen Ost und West" (alle erschienen bei Klett-Cotta, Stuttgart).
Heuer ist Gerhard Schweizers neues Buch "Der unbekannte Islam. Sufismus - die religiöse Herausforderung" erschienen (Klett-Cotta, 334 Seiten, 23,20 Euro). Darin beschreibt Schweizer Leben und Werk herausragender muslimischer Mystiker, vorrangig Sufis und Derwische des arabischen, türkischen, persischen und indischen Kulturraums. Analysiert wird ihre völlig undogmatische Religiosität und Philosophie. Darüber hinaus geht Schweizer in dem neuen Buch der Frage nach, weshalb die islamische Mystik zunehmend bei einem westlichen Publikum an Interesse gewinnt. Als eine der einflussreichsten Leitfiguren des Sufismus stellt er exemplarisch Celaleddin Rumi (1207-1233) vor, dessen Wirkung bis in die Gegenwart reicht und im kommenden September, wenn die islamische Welt seinen 800. Geburtstag feiert, einen Höhepunkt erleben wird.