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Geschenke der Vorstellungskraft

Von Sonja Panthöfer

Reflexionen

Ängste und Zwänge sind weit verbreitet, aber nicht jedes damit verbundene Verhalten ist automatisch krankhaft. Manche mitunter magische Rituale können den Alltag auch kreativ strukturieren helfen.


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Bei Fußballstar David Beckham muss im Kühlschrank immer eine gerade Anzahl von Getränkedosen stehen, während sein Landsmann Wayne Rooney zum Einschlafen angeblich das Geräusch eines Haartrockners oder Staubsaugers braucht. Die US-Schauspielerin Cameron Diaz wiederum leidet nach eigenem Bekunden an einem Waschzwang. Die Liste der Prominenten, die für bizarre Ticks bekannt sind, ließe sich problemlos fortführen. Für Außenstehende mag es befremdlich klingen, aber exzentrisches Benehmen gehört offenbar bei der Elite des Show- und Sportgeschäfts zur Tagesordnung, steigert unter Umständen sogar noch ihren internationalen Marktwert.

Während Stars also häufig über den Konventionen zu schweben scheinen, herrschen in normalsterblichen Sphären deutlich rigidere Maßstäbe. Gerade die häufigsten zwanghaften Verhaltensweisen - egal ob nun Kontroll-, Wasch- oder Gedankenzwänge - gehören nicht zu den Schwächen, die ohne weiteres preisgegeben werden dürfen, weil sie schlicht und einfach peinlich sind.

Als Mensch mit skurrilen Angewohnheiten hat man den Stempel eines "Freaks", der eben etwas anders tickt. Insbesondere von Mitmenschen, die sich selbst als Nicht-Freaks und "gesund" definieren, ist das Etikett "Freak" (zu Deutsch: Kauz oder Sonderling) jedoch immer häufiger nicht mehr freundlich, sondern vielmehr beleidigend zu verstehen und wird im neueren Internet-Deutsch teilweise in einem Atemzug mit "krank" genannt.

Fließende Grenzen

Am schleichenden Bedeutungswandel, den der Begriff "Freak" erlebt, lässt sich auch ablesen, wie streng unsere heutige Gesellschaft mit ihrer Verehrung von Werten wie Selbständigkeit, Leistung und Effizienz die Grenzen zwischen normal und abweichend fasst - Grenzen, die doch schon immer fließend waren und es nach wie vor sind, wie der Psychologe David Althaus betont.

Der Münchner ist Experte für Zwangsstörungen und stellt fest: "Zwänge in abgemilderter Form sind ein verbreitetes Phänomen, das zudem gerne vorschnell dia-gnostiziert wird." Schmunzelnd fügt Althaus hinzu, dass selbst Mediziner, die gemeinhin als Rationalisten gelten, nicht vor Zwängen gefeit sind. Bei seinen Fortbildungen, die er häufig für Ärzte hält, stellt der 48-Jährige zum Auftakt stets die Frage nach dem Klassiker unter den Kontrollzwängen: "Haben Sie heute morgen überprüft, ob Sie den Herd ausgeschaltet haben?"

Regelmäßig, so Althaus, gestehen dabei gleich mehrere Teilnehmer kleinlaut ein, dass das Ist-der-Herd-auch-wirklich-aus-Ritual Teil ihrer täglichen Morgen-Routine ist. "Peinlich berührt sind die Mediziner allerdings, wenn sie lachend zugeben müssen, dass sie den Herd gar nicht eingeschaltet haben, ihn aber trotzdem und unter Umständen sogar mehr als einmal kontrollieren", berichtet Althaus.

Demnach leidet jemand, der in der Früh die Herdplatte kontrolliert oder drei Mal an der Haustür rüttelt, um sich zu vergewissern, ob sie tatsächlich abgesperrt ist, an Zwängen, aber eben noch längst nicht an einer Zwangsstörung.

Ernsthaft Gedanken sollte man sich nach Ansicht der Experten erst machen, wenn der Alltag von Ängsten durchsetzt ist und alltägliche Handlungen wie etwa das Waschen der Hände zu einem aufwändigen Ritual mutieren, das immer mehr Zeit in Anspruch nimmt.

Zwangsstörungen

Studien zufolge erkranken ein bis zwei Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens einmal an einer Zwangsstörung; Männer und Frauen sind dabei in etwa gleich häufig betroffen. Auffällige Unterschiede gibt es allerdings bei der Verteilung der Zwangsarten: Frauen werden demnach besonders häufig von einem Waschzwang geplagt, Männer hingegen sind insbesondere von Kontroll- und Ordnungszwängen betroffen.

Wer allerdings zu zwanghaftem Verhalten neigt und eine auffallende Vorliebe für Tätigkeiten wie Sortieren, Kontrollieren, Desinfizieren und Waschen hegt, hat noch nicht gleich eine Zwangsstörung, wie Althaus hervorhebt. Er hält die Zahlen der "Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen" daher auch für übertrieben und sieht Anzeichen einer Erkrankung erst in dem Moment, wenn die Zwänge mindestens eine Stunde täglich in Anspruch nehmen oder wenn sie Arbeits- und Privatleben beeinträchtigen.

Dabei stehen einerseits die Zwangsimpulse oder Gedanken im Vordergrund, die Angst und Anspannung auslösen, andererseits finden sich, gewissermaßen als Antwort darauf, Zwangshandlungen und Rituale, die Angst reduzieren. Angst - der ständige Begleiter bei Verhalten, das ins Zwanghafte hinüberspielt - ist jedoch nichts, "was für den modernen Menschen als sexy und attraktiv gilt, denn wir sollen mutig, selbstsicher und konfliktfähig sein - so sind wir aber nicht", sagt Althaus.

Die bittere Ironie ist allerdings, dass eine unterdrückte Angst erst recht zu großer Form aufläuft und in den Nischen des Alltags ein quicklebendiges Dasein führt. Dort kann sie sich als "unbeirrbare schlammige Kraft", der "Strömung eines Hochwassers" vergleichbar, breit machen, wie es die Schriftstellerin Annette Pehnt in ihrem "Lexikon der Angst" beschreibt. Die Freiburgerin hat sich mit ihren großen wie kleinen Ängsten arrangiert: "Peinlich ist mir nichts Menschliches. Ängste, und zwar alle Formen von Ängsten, gehören wesentlich zum Menschen dazu."

Vielleicht kann Pehnt, gerade weil sie gelernt hat, Angst nicht nur als Schwäche zu betrachten, die es zu überwinden gilt, diesem für viele bedrückenden Zustand etwas Positives abgewinnen. Die 46-Jährige bescheinigt der Angst sogar etwas Schönes, weil sie den "Menschen in seiner Verletzlichkeit zeigt". In den Momenten der Angst "bin ich ausgesetzt, da bin ich nicht Beton, da bin ich Angst".

Durch den offenen Umgang etwa mit ihrer Flug- oder Autobahnangst - im Vorwort ihres Buchs spricht sie von einer "Serie von Exorzismen" - gelingt der Autorin etwas, das die amerikanische Schriftstellerin Katherine Thomp- son als "Lesen von Ängsten" bezeichnet, eine Technik, die große Wirkung auf unser Leben haben kann: "Richtig gelesen ist Angst ein verblüffendes Geschenk der Vorstellungskraft, eine Art Hellsehen im Alltag, eine Möglichkeit zu einem Blick in die Zukunft, wenn noch Zeit ist, ihr Aussehen zu beeinflussen."

Thompson zufolge sollen wir unsere Ängste nicht nur als bloße Ängste, sondern letztlich als Geschichten betrachten, um ihnen somit nüchterner begegnen zu können. Gleichermaßen lassen sich auch Zwänge aus einer gewissen Distanz heraus entschlüsseln: Im Zentrum steht dabei - angesichts eines Lebens voller Ungewissheiten - das Grundbedürfnis nach Sicherheit, das zwar allen Menschen eigen ist; der Blick eines Menschen mit Zwängen wird jedoch vom Misstrauen in die eigene Wahrnehmung getrübt. Unter dem Eindruck dieser "gefühlten" Unsicherheit erscheinen potenzielle Risiken so deutlich bedrohlicher als für andere Menschen.

Magisches Denken

Seine Resistenz bezieht ein Zwang zudem aus einer Form des "magischen Denkens", wie Althaus es nennt, für das Menschen mit Zwängen besonders anfällig sind. Typisch für diesen Aberglauben sind etwa Befürchtungen, allein aufgrund bestimmter Gedanken Unglück heraufbeschwören zu können. Der Psychologe betont zugleich aber auch, dass es sich bei diesem Denken jenseits jeder rationalen Logik um ein generell in unserer Gesellschaft weit verbreitetes Phänomen handelt, das gerade in der Fußballwelt besonders beliebt sei.

Hier lässt sich die erstaunliche Fähigkeit, kausale Zusammenhänge zu sehen, wo keine sind, allein schon am Glauben an das gute oder böse Omen etwa bei der Auswahl des Schiedsrichters ablesen, dessen Person zumeist unabhängig von beruflichen Qualitäten auf dem Spielfeld "magisch aufgeladen" wird: Ist die zuletzt geleitete Partie des jeweiligen Referees zugunsten der eigenen Lieblingsmannschaft ausgegangen, wird dies von Fans, Spielern sowie begeisterten Sportjournalisten als günstiges Zeichen des Himmels für das anstehende Fußballspiel gewertet. Im Falle einer Niederlage in der Statistik befeuert es hingegen Befürchtungen, dass die erneute Besetzung des Unglücks-Spielleiters weiteres Ungemach nach sich zieht.

Magisches Denken, durchsetzt mit zwanghaften Zügen, ist also ein Teil der Volkskultur und gilt als normal, nicht zuletzt deshalb, weil es die Mehrheit der Menschen so empfindet. Auch Annette Pehnt gesteht ein, dass ihr etwa Rituale des "Nicht-vorher-Erwähnens-von-Dingen" nicht fremd sind, weil sie darauf hofft, mit diesem Verschweigen bedrohliche Ereignisse - wie etwa einen befürchteten Flugzeugabsturz - abzuwenden. Ein Zwang, den zwar die Schriftstellerin nicht kennt, den aber offenbar inzwischen nicht wenige Menschen pflegen, ist jener, vor dem Verlassen des Hauses den - hoffentlich ausgeschalteten - Herd zu fotografieren. Packt einen nämlich später unvermittelt die fiese "schlammige Kraft" der Angst, reicht ein kurzer Blick ins (digitale) Fotoalbum, um sich zu vergewissern, dass alles gut ist und das Haus noch steht.

Der Zwangscode

David Althaus spricht allerdings von einer Scheinlösung: "Im Grunde ist es der typische Versuch eines Menschen, der versucht, einen Zwang zu beherrschen, indem er ihn noch perfekter ausführt." Je effektiver aber ein Zwang gegen die zuvor gespürte Angst oder Unsicherheit wirkt, desto schwerer fällt es, auf das Ritual zu verzichten. Der Experte empfiehlt stattdessen, sich auf die Suche nach dem Zwangscode zu begeben. Um den fatalen, alles beherrschenden Zwang zu begreifen, müsse man herausfinden, welche unangenehmen Gefühlslagen man mit Zwangsritualen bändige. Die eigentliche Herausforderung dabei sei für viele Menschen, Emotionen überhaupt wahrzunehmen und zu benennen.

Annette Pehnt, die in der deutschen Literatur als Expertin in Sachen Feingefühl für komplexe Gefühlswelten gilt, kennt die Angst von A bis Z, sie hat sie gründlich erkundet und durchlebt. Jedes Mal "durchströmt mich ein Gefühl der Erlösung, wenn ich die Autobahn lebend verlasse oder der Flieger mit mir an Bord wieder sicher gelandet ist". Ein fast "weihnachtlicher Frieden" könne sich dann einstellen. Das klingt nach einem sehr schönen - und gar nicht peinlichen - Gefühl.

Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin, als Coach und Trainerin für Deutsch als Fremdsprache in München.

Literatur:Annette Pehnt: Lexikon der Angst. Piper Verlag 2013.David Althaus, Nico Niedermeier, Svenja Niescken: Zwangsstörungen. Wenn die Sucht nach Sicherheit zur Krankheit wird. C.H. Beck 2013.