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"Geschichte droht zu verstummen"

Von Walter Hämmerle

Politik

"Olah war einer der wenigen potenziellen Linkspopulisten." | Plädoyer für Haus der österreichischen Geschichte. | "Wiener Zeitung": Mit Franz Olah starb am Freitag der letzte noch lebende Zeitzeuge für die dramatische Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert. Was bedeutet der Verlust von Zeitzeugen für die Erinnerungskultur eines Landes?


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Oliver Rathkolb: Zunächst einmal zwei ganz unterschiedliche Dinge, wobei völlig offen ist, welche Entwicklung sich am Ende durchsetzen wird. Einerseits ist es manchmal ganz gut, wenn Geschichte kalt wird, wenn also keine persönlichen Erinnerungen mehr an polarisierende Ereignisse wie etwa den Bürgerkrieg 1934 existieren. Dann kann man sich den Ereignissen von damals unbelasteter annähern.

Andererseits verschwinden für große Teile der Bevölkerung historische Ereignisse völlig. Das kann man sehr gut an Umfragen erkennen: Demnach verbinden bereits heute rund 40 Prozent der Bevölkerung keinerlei Bedeutung, Erinnerung mehr mit der Ersten Republik. Eine solche Entwicklung ist natürlich problematisch für die Geschichtskultur, weil kein historisches Gedächtnis für die Gründe und Ursachen von vergangenen Konflikten und Katastrophen mehr existiert. Man kommt dann irgendwann einmal an den Punkt, an dem man aus der Geschichte nichts mehr lernen kann, weil man keine Lehren aus vergangenen Fehlern mehr ziehen kann.

War Olah tatsächlich der Letzte seiner Zeit?

Er war der Letzte, der auf hoher Ebene, als zentraler Akteur die Gründung der Zweiten Republik miterlebt hat; das gilt auch für seine Erfahrungen im Konzentrationslager, was oft vergessen wird.

Wie beurteilen Sie den öffentlichen Umgang mit seinem Tod?

Wenn jemand das Alter von 99 Jahren erreicht hat, reagiert die Öffentlichkeit immer zurückhaltend. Olahs historische Bedeutung hatte natürlich auch einen negativen Hintergrund: Er war ein Charismatiker, der versuchte, stark autoritäre Züge in die Politik einzubringen. Wahrscheinlich war er einer der wenigen potenziellen Linkspopulisten, der auf eine ganz eigene, mitunter sehr intransparente Politik setzte. Und er besaß in der Phase der internationalen Entspannung einen fast zwanghaften Anti-Kommunismus, der wohl aus seinen traumatischen Erlebnissen während der KZ-Haft herrührte. Demgegenüber stehen seine Verdienste etwa beim kommunistischen Oktoberstreik 1950, der aber aus meiner Sicht kein Putsch war, und sein Beitrag zur Versöhnung zwischen katholischer Kirche und Sozialdemokratie.

Die Geschichtspolitik der österreichischen Regierung erschöpft sich weitgehend im Abfeiern diverser Gedenkjahre. Ist das angesichts des Verlusts der Zeitzeugen zielführend?

Man muss, so glaube ich, jetzt langsam zu einem Punkt finden, um von diesen Gedenktagen wegzukommen. Auch die Menschen haben irgendwann einmal die Nase voll. Stattdessen wäre es wichtig, einige Grundkenntnisse zu transportieren. Dafür gäbe es ein passendes Projekt, über das schon lange diskutiert wird, das derzeit aber leider im Bundeskanzleramt und im Finanzministerium schubladisiert ist - ein Haus der österreichischen Geschichte. Das endlich umzusetzen wäre ein wichtiger Schritt angesichts des grassierenden Verlusts historischen Wissens in der Bevölkerung und auch angesichts der zunehmenden Zahl an Migranten, denen ein Integrationsangebot gemacht werden sollte.

Zur Person:Oliver Rathkolb, geboren 1955 in Wien, ist Professor für Zeitgeschichte an der historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

Link:'Harmlos war ich ganz sicher nicht' Das letzte Interview des am 4. September 2009 verstorbenen Franz Olah, gehalten im Juli in Baden.