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Geschichte vor Gericht

Von Martyna Czarnowska

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Wie weit Forschung und Kunst gehen dürfen, könnte in Polen künftig die Justiz entscheiden.


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Spätestens im Jahr 2000 wurde Jedwabne berühmt. Das Städtchen im Nordosten Polens wurde zu einem der Symbole für das Leid der Juden im Zweiten Weltkrieg. Hunderte Menschen wurden im Juli 1941 auf dem Marktplatz zusammengetrieben, dann in eine Scheune gepfercht und verbrannt. Die Täter waren aber weder deutsche noch russische Soldaten. Es waren polnische Bewohner, die ihre jüdischen Nachbarn ermordeten.

"Nachbarn" lautet denn auch der Titel des Buches, in dem der Soziologe und Historiker Jan Tomasz Gross die Ereignisse von Jedwabne nachzeichnet. In Polen erschien das Werk 2000. Ein Schrei der Empörung aus rechtskonservativen und stramm nationalistischen Kreisen war die Folge. Gross wurde Ehrenbeleidigung, Verunglimpfung der Polen, Ignoranz gegenüber deren Leid während der Nazi-Besatzung vorgeworfen. Andere hingegen begrüßten den Anlass, sich mit einer Seite der polnischen Geschichte zu befassen, die nicht den Opfermythos in den Vordergrund rückt.

18 Jahre später taucht der Name Gross in öffentlichen Debatten erneut immer wieder auf - im Zusammenhang mit einem Gesetz, das der Historiker selbst als "idiotisch" bezeichnet. Es geht um das Verbot, das polnische Volk oder den polnischen Staat für Nazi-Verbrechen verantwortlich oder mitverantwortlich zu machen. Entsprechende Aussagen können mit Geld- oder sogar Gefängnisstrafen geahndet werden.

Hintergrund ist ein Kampf, den die polnische Diplomatie schon seit Jahren gegen den Begriff "polnische Konzentrationslager" führt, der vor allem in englischsprachigen Publikationen manchmal zu finden ist. Er suggeriert, dass etwa Auschwitz vom NS-Regime nicht nur auf polnischem Boden gebaut, sondern auch von Polen betrieben wurde. Daher forderten polnische Behörden und Politiker immer wieder Klarstellungen: dass die Gaskammern des Zweiten Weltkrieges von Deutschen errichtet und in Betrieb gehalten wurden; dass während der Okkupation sechs Millionen Polen umgekommen sind, davon drei Millionen polnische Juden.

Aufklärungsarbeit und diplomatische Bemühungen sind da durchaus angebracht. Ob Gesetze und Strafandrohungen helfen, ist aber fraglich - vor allem ist in dem Text nicht einmal von der Formulierung "polnische Lager", die ein Delikt darstellen könnte, die Rede.

Vielmehr hat die Regelung, die diese Woche in Kraft getreten ist, nicht nur für einen Streit zwischen der nationalkonservativen Regierung in Warschau und Israel gesorgt, wo neue Hürden für die Holocaust-Forschung befürchtet werden. Auch in Polen gibt es Sorgen, dass die Freiheit von Kunstschaffenden und Wissenschaftern eingeschränkt werden könnte. Von einem "Knebel-Effekt" spricht Gross. Er selbst ist schon einmal das Ziel von Ermittlungen wegen "Verleumdung der polnischen Nation" geworden. Und könnte es wieder werden.

Das Kabinett in Warschau beruhigt: Kunst und Forschung werden nicht behindert. Doch ob eine Aussage das polnische Volk beleidigt oder nicht, sollen künftig die Gerichte entscheiden. Deren Strukturen hat die Regierungspartei aber gerade nach ihren Vorstellungen umgebaut.