2014 wird keine Wiederholung von 1914. Aber Lehren aus der Geschichte schaden nie.
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1914. Die unheimliche Aktualität des Ersten Weltkriegs" titelt das deutsche Nachrichtenmagazin "Spiegel" in seiner jüngsten Ausgabe. "Der nahe ferne Krieg", heißt es im Blattinneren. 100 Jahre danach, 2014, erinnert man an das große Völkerschlachten, an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die das Antlitz Europas für immer verändert hat. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren das zentraleuropäische Imperium Österreich-Ungarn zerschlagen und das Deutsche Kaiserreich geschrumpft.
Beide Aggressor-Mächte des Jahres 1914 gingen als Monarchien in den Krieg, Frieden schlossen dann die ungekrönten Vertreter der neuen jungen Republiken Deutschland und Deutschösterreich in Versailles und Saint-Germain. Die Mitglieder des russischen Zarengeschlechts des Hauses Romanow waren vertrieben oder ermordet, die Bolschewiki (die sich dann Kommunistische Partei nannten) beherrschten das Land, das sich bald Sowjetunion nennen sollte. Und das Osmanische Reich, das auf Seiten der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg eingetreten war, musste 1920 den Friedensvertrag von Sèvres unterzeichnen, 1923 wurde die Republik Türkei ausgerufen.
Von Mark Twain stammt der Ausspruch: "Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich." Und die Folgen der Wirren des ersten Weltkriegs – sind in manchen Fällen tatsächlich von einer unheimlichen Aktualität. Nur wer die Vergangenheit versteht, kann die Zukunft meistern, und so ist die unheilvolle Zahl 1914 im Jahr 2014 keineswegs ein Menetekel, sondern ein Grund für einen zeitgenössischen Europäer, stolz auf den seit 1951 währenden Einigungsprozess auf dem Kontinent zu sein. Wenn man sich am 28. Juni an die Todesschüsse des bosnisch-serbischen Nationalisten Gavrilo Princip auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo erinnern wird, wird man auch feststellen, dass das heutige Östereich mit dem heutigen Serbien enge Bande geknüpft hat. Kein EU-Land bemüht sich mehr als Österreich, Belgrads Interessen in Brüssel zu vertreten. Und wenn der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck am 3. August mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande der Toten der Schlacht um den Hartmannsweiler Kompf, einer zwischen Deutschen und Franzosen schwer umkämpften Bergkuppe im Elsass gedenken wird, wird wieder einmal sichtbar werden, wie aus Feinden von einst Partner geworden sind.
Europa musste spätestens nach dem Ersten Weltkrieg den Führungsanspruch für die westliche Welt an die USA abgeben, 1914 war der Anfang vom Ende einer jahrhundertelangen globalen Dominanz der europäischen Mächte. "1918 brachte nicht nur das Ende des Habsburgerreichs, sondern das Ende des imperialen Zeitalters und den Beginn der Epoche der Nationalstaaten", sagte der Historiker Tim Snyder in einem Interview mit der "Wiener Zeitung" im heurigen August dieses Jahres. Aber Snyder warnte in diesem Interview auch, nicht den Fehler zu begehen, zu sagen: "Diese Situation hatten wir doch schon, die Geschichte wiederholt sich. Aber das tut sie nie. Jeder historische Moment setzt sich aus unzähligen Faktoren zusammen." "Bogen der Instabilität hat seine Wurzeln im Jahr 1916"
Der Bogen der Instabilität im Nahen Osten, der vom Libanon bis in den Iran reicht, hat seine Wurzel im Sykes-Picot-Abkommen von 1916, in dem in einer geheimen Übereinkunft zwischen Großbritannien und Frankreich, die kolonialen Einflusssphären im Nahen Osten nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg festgelegt wurden. Die Gebiete des heutigen Israel, der besetzten palästinensischen Gebiete, des Libanon, Syrien, Irak, Kuwait und Saudi-Arabien waren zwischen den beiden West-Mächten aufgeteilt. Die hastig vom Briten Mark Sykes und dem Franzosen Georges Picot mit Graphit-Stift aufgetragenen Grenzen verlaufen unkompliziert-gerade. Doch das ethno-religiöse Mosaik in diesen war alles andere als unkompliziert.
Aber "der Gedanke hinter dem Sykes-Picot ließ sich nicht in die Praxis übersetzen", wie der ägyptische Autor Tarek Osman in der von ihm präsentierten Radio-Serie "The Making of the Mordern Arab World" auf BBC (Radio4) sagt. "Die neugeschaffenen Grenzen korrespondierten nicht mit den tatsächlichen religiösen, ethnischen oder Stammesgrenzen."
Diese Unterschiede seien aber vergraben gewesen: zuerst unter dem gemeinsamen Streben der Menschen in der Region, die europäischen Mächte loszuwerden, und dann "unter der über die Region hinwegfegenden Welle des arabischen Nationalismus", wie Osman weiter sagt.
Dass die Briten zudem offenbar nicht gewillt waren, ihr Versprechen, das sie den arabischen Völkern gegeben hatten – wenn sie gegen die osmanischen Herrscher rebellierten, winke nach einem erfolgreichen Umsturz die Unabhängigkeit –, einzulösen, war nicht eben dazu angetan, die Beliebtheit des britischen Empires im Nahen Osten zu mehren. Im Gegenteil: Die Unfähigkeit der Regierungen, das britische Joch nach dem Zweiten Weltkrieg abzuschütteln, führte zum Aufstieg des energischen Nationalisten Gamel Abdel Nasser in Ägypten oder des liberalen Nationalisten Mohammad Mossadegh im Iran.
Der Einmarsch von US-Truppen im Irak setzte dieser Ära ein Ende: Zuerst wurde Saddam Hussein aus seinem Palast in Bagdad verjagt (2003) und später hingerichtet, Bashar al-Assad musste seine Armee aus dem Libanon zurückziehen (2005) und Hosni Mubarak wurde von einer Revolution hinweggefegt (2011).
2013 war das Jahr, in dem das Ancien Régime in Ägypten sich wieder festigen konnte, und auch Bashar al-Assad in Syrien sitzt bis heute in Damaskus fest im Sattel. Die Folgen des Arabischen Frühlings werden auch 2014 weiter spürbar sein, diese historische Entwicklung birgt zwar die Hoffnung auf ein besseres Leben für die im Nahen Osten aufwachsende junge Generation, aber auch die Gefahr weiterer Wellen der Unruhe und des Chaos, die die Region auf absehbare Zeit hinaus umspülen werden.
Und dass die Schlagzeilen auch 2014 von den Bürgerkriegswirren in Syrien bestimmt werden, davon kann man ausgehen: Eine Studie des Center for Preventive Action der US-Denkfabrik Council on Foreign Relations kommt zu dem Schluss, dass 2014 mit einer Intensivierung des Konflikts in Syrien zu rechnen ist.
Syrien wird auch 2014 die Schlagzeilen dominieren
Der Konflikt ist längst zu einem Stellvertreterkrieg zwischen den arabischen Mächten – welche die syrischen Rebellen unterstützen – einerseits und dem Iran (und in eingeschränktem Umfang auch Russland), die auf der Seite des Baath-Regimes von Bashar al-Assad in Damaskus stehen, mutiert. Der Westen hat sich im Jahr 2013 immer mehr aus der Konfliktregion zurückgezogen – und wird das wohl auch 2014 tun. Gerade die Tatsache, dass Assad der Vernichtung seines Chemiewaffenarsenals zustimmte, hat eine Intervention durch die USA oder die Nato äußerst unwahrscheinlich gemacht.
Der Westen hat einen weiteren Grund, sich vom Konflikt zu distanzieren: Denn von Washington bis Paris und London will niemand in den Krieg hineingezogen werden, gleichzeitig will Saudi-Arabien niemand vor dem Kopf stoßen, aber drittens haben die USA und die Europäer viel politisches Kapital in eine Verbesserung der Beziehungen mit dem Iran investiert. Eine allzu direkte Unterstützung einer direkt gegen die Interessen Teherans gerichteten Konfliktpartei wäre wohl kontraproduktiv.
Russlands Interessen verbieten einen solchen Schritt: Syrien ist neben dem Iran das einzige Land im Nahen Osten, auf das die russische Führung Einfluss ausüben kann, in Tartus, ganz in der Nähe der libanesischen Grenze verfügt die russische Marine über ihren einzigen Stützpunkt im Mittelmeer. Ein Aufflackern des Konflikts im Nordkaukasus und die Serie von Bombenanschlägen vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi ist auch vor dem Hintergrund der russischen Unterstützung des Assad-Regimes zu sehen.
Die historische Parallele: Im ersten (1994 bis 1996), aber vor allem im zweiten Tschetschenien-Krieg (1999 bis 2009) unterstützten eine Allianz arabischer Staaten (unter Führung Saudi-Arabiens) sowie die Türkei klandestin tschetschenische Rebellen in ihrem Streben nach Unabhängigkeit von Moskau.
Ein Besuch Wladimir Putins 2007 in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad sowie der Besuch des vom Kreml in Tschetschenien eingesetzten Statthalters Ramzan Kadyrov in Mekka in den Jahren 2007 und 2008 führten dazu, dass der Konflikt abflaute. Im Vergleich mit dem Stellvertreterkrieg zwischen Iran und den arabischen Ländern spielen Russlands Interessen in Syrien aber freilich eine untergeordnete Rolle.
Wahlen in den wichtigsten BRICs
Das kommende Jahr bringt Wahlen in den beiden wichtigsten BRIC-Staaten: Am 5. Oktober wählt Brasilien einen neuen Präsidenten. Für die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff eine veritable Herausforderung. Denn die Wirtschaft, die bereits stottert, wird sich voraussichtlich 2014 weiter verlangsamen. Ein Downgrade Brasiliens scheint möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Die Fußballweltmeisterschaft von 12. Juni bis 13. Juli wird Brasilien in den Fokus der Weltöffentlichkeit rücken: Ob die Fußball-Euphorie Rousseff nützt oder die Schwächen der brasilianischen Infrastruktur bloß legt, bleibt abzuwarten. 2013 war für Rousseff kein gutes Jahr: Proteste haben das Land im Sommer erschüttert, der Traum vom brasilianischen Wirtschaftswunder ist fürs Erste ausgeträumt.
Indien sieht 2014 ebenfalls einer Phase der Instabilität entgegen: Die Ära der Kongress-Partei scheint zu Ende, der jüngste Spross des Gandhi-Nehru-Clans, Rahul Gandhi konnte die Hoffnungen seiner Mutter, Sonia Gandhi, die Rahul gerne als nächsten Premierminister gesehen hätte, bislang nicht erfüllen. Für den Wahlgang im Mai 2014 rechnen viele politische Beobachter mit einem Wahlsieg von Narendra Modi, dem Chief Minister des Bundesstaats Gujarat. Unter Modis Regentschaft hat Gujarat ein beachtliches Wirtschaftswachstum erzielt, Modi selbst gehört zu den Lieblingen der indischen Wirtschafts-Eliten.
Aber Modi ist nicht unumstritten: Als nach einem Anschlag im Februar 2002 in Gujarat auf einen Zug mit hinduistischen Pilgern ein Pogrom gegen Muslime in Gujarat losbrach, bei dem nach offiziellen Schätzungen 254 Hindus und 790 Muslime ums Leben kamen, ließ Modi den Mob gewähren und griff nicht ein. Ob die hindu-nationalistische BJP (Bharatiya Janata Party), der Modi vorsteht, auch die moderaten Wähler überzeugen kann, wird sich zeigen. Bei den jüngsten Regionalwahlen in Indiens Hauptstadt Delhi gelang Arvind Kejriwal von der linksgerichteten Antikorruptions-Partei Aadmi Party (Die Partei des einfachen Mannes) ein beachtlicher Wahlsieg. Eine Modernisierung des indischen Parteiensystems nach den anstehenden Wahlen gilt als gesichert.
Wie geht es 2014 mit Europa weiter?
Nach den schmerzlichen Krisenjahren seit 2008 ist 2014 das Jahr, in dem der Schmerz nachlassen wird. Zwar ist die Wirtschaftskrise noch nicht überwunden, und viele Staaten in Europa leiden
unter einer dramatisch hohen Arbeitslosigkeit. Die EU-Institutionen – allen voran der aus den europäischen Staats- und Regierungschefs bestehende Europäische Rat – haben viele Fehler gemacht. Sie haben aber letztlich dazu beigetragen, dass sich die schlimmsten Befürchtungen – ein Zerfall der Eurozone und der Austritt von EU-Staaten aus der Union – nicht bewahrheitet haben. Ob bei den von 22. bis 25. Mai stattfindenden EU-Wahlen tatsächlich die nationalistischen, anti-europäischen Parteien zu den größten Gewinnern gehören werden, wird sich zeigen.
Auf der Lateinerbrücke (Latinska cuprija) in Sarajewo wurde 1914 die Eröffnungssalve für den ersten Weltkrieg abgegeben. Von 1992 bis 1995 flogen im Bosnien-Krieg Granaten über dieses osmanische Steinbogenbauwerk.
Das Jahr 1914 hätte Warnung genug sein müssen, was passiert, wenn der Nationalchauvinismus den Kontinent beherrscht.
Diesmal sollte Europa aus der Geschichte gelernt haben.
Risiko von Unruhen
Sehr geringes Risiko: Österreich, Dänemark, Japan, Luxemburg, Norwegen
Geringes Risiko: Australien, Botswana, Chile, Costa Rica, Deutschland, Finnland, Gambia, Hongkong, Island, Kanada, Lesotho, Malaysia, Mauritius, Namibia, Neuseeland, Polen, Senegal, Singapur, Slowakei, Schweden, Taiwan, Tschechien, Uruguay, Vereinigte Arabische Emirate, USA
Mittleres Risiko: Angola, Armenien, Aserbaidschan, Äquatorial-Guinea, Belgien, Belize, Benin, Brasilien, Dominikanische Republik, Ecuador, Elfenbeinküste, Eritrea, Estland, Frankreich, Gabun, Georgien, Ghana, Indien, Indonesien, Irland, Israel, Italien, Kapverde, Kolumbien, Kongo-Brazzaville, Kuba, Jamaika,
Katar, Kenia, Lettland, Litauen, Malawi, Malta, Mosambik, Niederlande, Oman, Paraguay, Ruanda, Russland, Sambia, São Tomé und Príncipe, Saudi-Arabien, Serbien, Seychellen, Slowenien, Südkorea, Tansania, Thailand, Trinidad & Tobago, Uganda, Ungarn, Vietnam
Hohes Risiko: Albanien, Algerien, Äthiopien, Brasilien, Bulgarien, Burkina Faso, Burundi, Kambodscha, Kamerun, China, Kroatien, Guatemala, Guyana, Haiti, Honduras, Iran, Jordanien, Kasachstan, Kirgisien, Laos, Madagaskar, Mazedonien, Mexiko, Moldawien, Marokko, Myanmar, Nicaragua, Pakistan, Panama, Papua Neuguinea, Peru, Philippinen, Portugal, Rumänien, Südafrika, Spanien, Sri Lanka, Tadschikistan, Togo, Tunesien, Turkmenistan, Tschad, Türkei, Ukraine, Weißrussland, Zypern
Besonders hohes Risiko: Argentinien, Ägypten, Bahrain, Bangladesch, Bolivien, Bosnien, Griechenland, Guinea, Irak, Jemen, Libanon, Libyen, Nigeria, Simbabwe, Sudan, Swasiland, Syrien, Usbekistan, Venezuela
Basierend auf Länder-Ergebnissen der Analysen der Economist Intelligence Unit auf einer Skala von 0 (sehr niedrig) bis 4 (sehr hoch).
1914 - 2014?
28. Juni 1914: Gavrilo Princip tötet bei einem Attentat in Sarajewo das Thronfolgerpaar Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie. Dies führt zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
21. Jänner 1924: Wladimir Iljitsch Lenin stirbt.
12. bis 15. Februar 1934: Österreichischer Bürgerkrieg mit hunderten Opfern.
1. September 1939: Deutschland überfällt Polen, womit der Zweite Weltkrieg beginnt.
1949: Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sowie die Proklamation der Volksrepublik China durch Mao Zedong.
12. Juni 1964: Nelson Mandela, Führer des African National Congress, wird zusammen mit sieben Mitangeklagten wegen Subversion und Sabotage zu lebenslänglicher Haft verurteilt.
5. September 1964: Großbritannien entlässt Malta in die Unabhängigkeit.
9. November 1989: Fall der Berliner Mauer.
12. Juni 1994: Österreich entscheidet sich in einem Referendum für den EU-Beitritt.
1. Mai 2004: Die Europäische Union wird um zehn Mitglieder erweitert.