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Geschichtsschreibung der Gegenwart

Von Thomas Seifert

Politik

Die Welt im Notizbuch - das war die Mission des Außenpolitikressorts. Sie wurde mit Leidenschaft erfüllt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wuhledar, Februar 2023. Eine heftig umkämpfte Bergbaustadt in der Ostukraine. Wir haben unser Ziel erreicht. Gleich hinter der nächsten Kurve lauert im Februar dieses Jahres der Krieg. Also heißt es für meinen Field-Producer Alex, meinen Fahrer Yevgen und mich: Helm auf, Flak-Jacket anziehen. Die verschneiten Straßen der Stadt sind menschenleer, die Gebäude - die meisten sind ausgebrannte Ruinen - sind verwaist. Einschläge sind zu hören, das Pfeifen von Granaten, kurze Feuerstöße von Maschinengewehren: Taktaktak, taktaktak, taktaktak.

Was machen wir hier an diesem gottverlassenen Ort überhaupt?

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten.

Im Hinterhof einer der zerschossenen Mietskasernen treffen wir Jelena und Oleksandr. Die beiden - sie sind um die 50 Jahre alt - führen uns zu einem Grab auf dem ehemaligen Kinderspielplatz im Hof zwischen den Gebäuden, dort markiert ein schlichtes Holzkreuz das Andenken an Andrij Petrow, gestorben am 01.12.2022. Petrow war ihr Nachbar, die Hausgemeinschaft musste ihn nach einem russischen Raketenangriff, der ihn das Leben gekostet hat, begraben. Jelena und Oleksandr erzählen von ihrem Leben im Granatenhagel, zeigen, wie sie hier leben und überleben, erzählen von ihrem Alltag.

Und wieder die Frage: Was tun wir hier?

Antwort: Irgendjemand muss ja hinter die Schlagzeilen blicken und erzählen, wie das denn so ist, wenn die Nachrichtenagenturen melden, "dass in der Nähe von Wuhldar russische Truppen versucht hätten, ukrainische Linien im Osten und Nordosten zu durchbrechen, und ihre Artilleriebombardements intensiviert haben".

Nun wissen wir es.

Die Reportage aus Wuhledar erschien übrigens am 23. Februar 2023 in der "Wiener Zeitung".

"Schreiben, was ist"

Journalismus - "Schreiben, was ist." Dieses Prinzip hatte einst "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein formuliert. Der Säulenheilige des deutschen Journalismus verstand Journalisten als Aufklärer, die die Welt so darstellen sollten, wie die Welt eben so ist. Aber wie ist sie? "Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies", hätte die polnische Reporterlegende Ryszard Kapuscinski vielleicht geantwortet.

Aber was ist Journalismus?

Das Handwerk der Geschichtsschreibung der Gegenwart. Zeugnis ablegen, vor Ort erkunden, die Leserinnen und Leser an Orte führen, die sie selten betreten – seien es Kriegsschauplätze, seien es Ministerkabinette, seien es Bibliotheken von Forschern, die über die Welt nachdenken. Von überall dort schreibt Journalismus die Geschichte der Gegenwart fort.

Und wie geht das? Am besten aus der Frosch- und der Vogelperspektive. Gleichzeitig.

Denn die Einordnung des großen Ganzen gelingt leichter, wenn man den Ort des Geschehens kennt, und umgekehrt ist der Blick für die Details ist schärfer, wenn man sich vom großen Ganzen ein Bild machen konnte. Vor Ort bekommt man prägende Sichtweisen und unersetzliche Kontakte. Zum Faktengerippe kommt Fleisch, Papierenes wird lebendig. Gerüche, Bilder, Geräusche, Gesagtes und Gehörtes - all das vermengt sich zu einem Amalgam, das das Gefühl speist. Die Emotio wird nun zur Ratio addiert und plötzlich wird diese Geschichte der Gegenwart lebendig und bekommt eine Unmittelbarkeit, die förmlich auf die Seiten drängt.

Aber leider: Schreiben heißt Scheitern. So vieles geht verloren. Trost spendet der Satz des schwedischen Schriftstellers Pär Lagerkvist: "Es gibt keine Darstellung der ganzen Wirklichkeit. Nur eine Auswahl."

"Ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament", schrieb der französische Romancier Emile Zola als Sechsundzwanzigjähriger. Mit der Reportage verhält es sich ebenso: Sie beschreibt ein Stück Realität, gesehen durch ein Temperament.

Das Hinschauen, Zuhören und Mitfühlen ist nicht zuletzt eine Immunisierung gegen Zynismus und Empathielosigkeit.

Es gibt aber auch Kollegen, die gerne auf einen Satz des legendären deutschen Fernsehjournalisten Hans Joachim Friedrichs verweisen: "Einen guten Journalisten erkennt man daran ..., dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache." Dieser Satz steht zwar genau so auf der Rückseite der Autobiografie von Hajo Friedrichs. Aber dieser Satz kam ihm in einem Interview im "Spiegel" in Wahrheit viel differenzierter über die Lippen: "Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein." Das klingt nun schon ganz anders. Cool, aber nicht kalt.

Flucht ins Gutmenschentum

Es kommen härtere Tage: Das Führer-Figurenkabinett in der Menagerie der Paläste ist durchaus beängstigend. Will man angesichts dieser Horrorshow nicht die Hoffnung verlieren, bleibt nur die Flucht ins Gutmenschentum. Und das bedeutet, dass einem nichts bleibt, als sich gemein zu machen mit guten Sachen wie dem Völkerrecht, der Genfer Flüchtlingskonvention, der humanitären Schutzverpflichtung, aber auch dem Streben nach einer gerechteren, solidarischeren Welt auf einem Planeten, der auch den nachfolgenden Generationen noch eine lebenswerte Zukunft ermöglicht.

Doch diese Zukunft - wo ist sie für die bald 27-jährige Fumato Fugicha Harsawa, die in einem Dorf im Norden Kenias lebt? 2019 hatte Sie mit ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann 450 Ziegen, Schafe, Kamele, Kühe und Esel, in den Jahren der Dürre überlebten nur 20. Nun hofft sie, ihre Ziegen und Schafe wieder zu einer größeren Herde heranzüchten zu können, aber das Land ist karg und das Wasser ist knapp. Dazu kommt, dass es im Norden Kenias immer häufiger zu katastrophalen Dürreperioden kommt. Im Juni erschien in der "Wiener Zeitung" eine Reportage, die unter anderem von Fugichas Schicksal handelte. Wäre Joachim Friedrichs zufrieden gewesen mit dieser Geschichte? "Im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein" - vielleicht ist das gelungen.

Wenn man in diesem Job nicht versucht, die Welt ein Stück weit besser zu verlassen, als man sie vorgefunden hat, was macht man dann eigentlich in dieser Branche (und auf diesem Planeten)? Frei nach dem italienischen Schriftsteller, Politiker und Philosophen Antonio Gramsci (1891 bis 1937) braucht es neben dem "Pessimismus des Verstandes", den der Beruf leider angesichts dessen, worüber man tagein, tagaus berichtet, mit sich bringt, umso dringender einen "Optimismus des Willens". Dafür unerläßlich: Geduld und ein langer Atem. Trost findet man bei Martin Luther King, Jr., der in einer Rede am 31. März 1968 sagte: "The arc of the moral universe is long, but it bends toward justice. Der Bogen des moralischen Universums ist lang - aber er neigt sich in Richtung Gerechtigkeit." Na, hoffen wir’s.

Für den unzynischen Gutmenschenblick war die "Wiener Zeitung" jedenfalls offen. In den Debatten während, vor und nach den Redaktionssitzungen wurde der Weltenlauf leidenschaftlich und teils hitzig diskutiert, das größte Zimmer der Außenpolitikredaktion, Raum Nummer 3.21, wurde mehrmals täglich zum Salon, zum Debattierklub und zum Auditorium für Streitkultur - freilich ohne würdiges Dekor. Ein schlichter Raum, ausgestattet mit Computern und Funktionsmöbeln, auf denen Zeitungsberge ihr eigene Landschaft, ihr eigenes Terrain bildeten, wo stratigraphische Schichten der jüngsten Vergangenheit sich ablagerten, die die Redakteurinnen und Redakteure daran erinnerten, dass die viel diskutierten Ereignisse des Tages, die morgen die Zeitung füllen, schon übermorgen wieder Makulatur sind.

Die Außenpolitikredaktion war so etwas wie das Büro für kontemporäre Zeitgeschichte: Krieg in der Ukraine, Pandemie, Brexit, Arabischer Frühling - die historischen Ereignisse wurden eingeordnet und beschrieben, berichtet und analysiert.

Der der "Wiener Zeitung" immanente historische Geist ermunterte immer wieder zum Blick auf die Weitwinkelperspektive. Der zuletzt öfter zitierte Satz des spanischen Philosophen, Schriftstellers und Literaturkritikers George Santayana - "Wer die Vergangenheit vergisst, ist verdammt, sie zu wiederholen" (aus "Life of Reason", 1905/1906) - sollte als Mahnung ernst genommen werden. Gerade die besorgniserregenden Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass die Geschichtsvergessenheit der gegenwärtigen Gesellschaften den Weg in den Untergang weist.

Freilich, auch die Redaktion der "Wiener Zeitung" ließ sich von den Ereignissen, vom événement, treiben, doch nach einem ersten Durchatmen war der nächste Impuls stets, die Zusammenhänge zu durchdringen und zu verstehen. Es wäre vermessen, zu glauben, man könnte deuten, wie die Ereignisse des Tages sich in den Lauf der Geschichte einfügen könnten, was die Tagesmeldungen angesichts der longue durée-Perspektive denn eigentlich bedeuten. Aber die historischen Unterströmungen der Jahrhunderte zumindest zu bedenken und zu wissen, dass vieles von dem, das man heute kurzatmig berichtet, schon in ein paar Wochen bedeutungslos sein würde, rückt die Dinge zurecht.

Der tägliche Nervenkitzel

Der tägliche Nervenkitzel bleibt trotzdem: Denn jeder Tag birgt das Potenzial, den Lauf der Geschichte zu verändern. Schon wieder ein Zitat, diesmal angeblich von Lenin (dem der Satz freilich wohl deshalb zugeschrieben wird, weil er so gut zu diesem russischen Revolutionär und Miterfinder des bolschewikischen Staatsterrors passt): "Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert; und Wochen, in denen Jahrzehnte passieren."

Geschichtsbewusstsein existierte in der "Wiener Zeitung" als Haltung, fast 320 Jahre Zeitungsgeschichte verpflichten.

Die Redaktion war von der Idee vom Journalismus als erstem Rohentwurf der Geschichte beseelt, ein Satz, den Philip Leslie Graham, der Herausgeber der "Washington Post", populär gemacht hatte. Er sprach diese Worte im Jahr 1963 und sie sind es wert, in Erinnerung gerufen zu werden: "Lassen Sie uns also heute weiter an unserer unausweichlichen Aufgabe arbeiten, jede Woche einen ersten Rohentwurf der Geschichte einer Welt zu liefern, die wir nie wirklich verstehen können, und der nie vollendet werden wird."

Mit dem Ende der "Wiener Zeitung" in ihrer bisherigen Form wird dieses Band der Historie durchtrennt und Österreichs Fenster zur Welt ein Stück kleiner, die Geschichtsvergessenheit der Gesellschaft ein Stück größer. Schade für das schöne Österreich, das hat sich das Land, das in den Reden so mancher Vertreter der politischen Klasse als kleine Schnitzelrepublik daherkommt, ganz und gar nicht verdient. Der Blick über den Tellerrand ist vonnöten, hin zum weiten Horizont. Kosmopolitische Weltläufigkeit ist und bleibt das wirksamste Antiserum gegen kleingeistigen Provinzialismus.

Denn Wuhledar ist von Wien nur 1550 Kilometer entfernt - ungefähr so weit wie Ibiza. Über die Leben von Jelena und Oleksandr zu berichten und zu lesen, manchmal die Perspektive zu wechseln, das kann auch einen Beitrag leisten, Dinge zurechtzurücken. Wir haben es versucht.

Diesen Artikel finden Sie in Printform - ein letztes Mal - am 30.6. in Ihrer "Wiener Zeitung".