Eine Folge des russischen Krieges in der Ukraine sind tausende Kriegsgefangene. Besuch in der zentralen Einrichtung im Westen der Ukraine. Fahrer seien sie gewesen, Köche, Sanitäter, sagen die Insassen - gekämpft haben will niemand.
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Für diese Männer macht der Krieg Pause. Da ist der junge Bursche mit seinen 20 Jahren "aus Leningrad", wie er selbst sagt, der ein Bein verloren hat. Da ist der junge Mann um die 30 aus Donezk, dem ein Unterarm fehlt. Da ist der Herr mit der dicken Brille, Mitte 40, aus dem Ural, der noch alle Gliedmaßen hat und sich die Sowjetunion zurückwünscht. Hunderte Männer sind es hier. Hunderte Geschichten. Sie alle haben überlebt. Und gelandet sind sie im zentralen Lager für Kriegsgefangene in der Westukraine. Ein karger Bau: Schlafsäle, eine Kantine, Werkstätten, ein Spital.
Es ist ein Kommen und Gehen: Neue Gefangene kommen an, andere werden ausgetauscht. Und in den mitunter vielen Monaten dazwischen: Fernsehen, Papiersäcke zusammenkleben, Gartenmöbel flechten, dazwischen Essen und weiter.
In der Werkstätte wird gefaltet, geklebt, gepresst. Ihor sitzt da, richtet sich die Papiervorlagen mit der rechten Hand zurecht, nimmt einen Pinsel, tunkt ihn in Kleister und bestreicht einige Stellen. Der Ärmel seines linken Arms ist in die Jacke gesteckt. Denn den Arm gibt es nicht mehr. "Eine Granate", sagt er, als handle es sich um ein Feuerzeug, das er verloren hätte. 45 Jahre ist er alt. Und er ist überzeugt: Alle würden daran arbeiten, Russland zu zerstören. In Frieden sei er in die Ukraine gekommen - allerdings mit der russischen Armee. In Frieden könne man auch zusammenleben - allerdings zu einer Bedingung, wie er sagt: Die Ukrainer müssten einsehen, dass sie Russen seien. Sanitäter sei er gewesen. Geschossen habe er nie.
Rotes Kreuz hat nicht Zugang zu allen Kriegsgefangenen
Das eint all die Männer hier: gekämpft haben will niemand. Fahrer seien sie gewesen, Köche, Sanitäter, Logistiker. Alles, nur keine Soldaten, die auch geschossen haben. Die Realität im Osten der Ukraine beweist das Gegenteil.
Aber hier ist der Krieg weit entfernt. Der Wind pfeift, die Sonne scheint zwischen Wolkentürmen, Hunde bellen. Und was stimmt und was nicht an all diesen Erzählungen, es lässt sich kaum nachvollziehen.
Der Umgang mit Kriegsgefangenen unterliegt strengen internationalen Reglements. Eine zentrale Säule ist: Dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) als Kontrollorgan Zugang zu Einrichtungen hat, in denen Kriegsgefangene festgehalten werden.
Seitens der Lagerführung heißt es, das ICRC habe jederzeit vollen Zugang. Seitens des ICRC verweist man auf die Sensibilität der Materie und darauf, dass man die Handhabe von Kriegsgefangenen in diesem Krieg nur generell und nicht mit Bezug auf eine Kriegspartei oder gar eine spezifische Einrichtung kommentiere. Und so heißt es seitens des ICRC auf Nachfrage: "Unsere Teams haben Hunderte von Kriegsgefangene auf beiden Seiten besucht, aber wir wissen, dass es noch Tausende gibt, zu denen wir keinen Zugang haben." Es sei eine "rechtliche Verpflichtung der Konfliktparteien, uns Zugang zu allen Kriegsgefangenen zu gewähren, die sie gefangen halten".
Die Materie ist unübersichtlich: Einige Gefangene werden noch an der Front unter Vermittlung einander direkt gegenüberstehender Einheiten ausgetauscht, andere etwas später. Gegen manche Gefangene werden Verfahren eingeleitet, sollten sie verdächtigt werden, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Andere aber wiederum werden ins Hinterland gebracht, wie all jene, die hier in der Westukraine sitzen. Sie verbringen im Schnitt mehrere Monate in Kriegsgefangenschaft. Einer der Insassen gibt an, seit dem vergangenen Sommer hier zu sein. Der Austausch von Gefangenen unterliegt keinen Automatismen. Jede ausgetauschte Gruppe sei das Ergebnis von Verhandlungen, heißt es.
Mit einem weißen Plastikkittel steht Aleksander nun also da. 55 Jahre ist er alt, er hat noch alle Gliedmaßen, und er schöpft Erdäpfel, Salat, Suppe und Fleisch auf Teller. Seit September mache er das. Jeden Tag. Und, ja auch er sagt: Koch sei er gewesen, bevor er gefangen genommen worden sei. Geschossen habe er freilich nie. Er, der groß gewachsene Schuster aus Luhansk mit militärischer Vorerfahrung in der Roten Armee. Von der Straße weg hätten ihn Organe der russisch-kontrollierten ostukrainischen Region Luhansk im Februar 2022 zwangsrekrutiert, um an der Front dann die Gulaschkanone zu bedienen, wie er erzählt. Sagt’s und schweigt.
Männer kommen, stehen an in einer Reihe: ein Schöpfer Erdäpfel, ein Schöpfer Fleisch, ein Schöpfer Salat. Wortlos zu Tisch, setzen, essen. Dann wieder in Reih’ und Glied und auf Kommando eines Wärters raus aus dem Saal und zurück in die Werkstätten oder in den TV-Raum. Da läuft gerade auf einem ukrainischen Regionalsender eine Diskussionssendung über russische Propaganda - auf Ukrainisch. Sechs Männer sitzen da, die Wollmützen in den Nacken geschoben, schweigen, schauen in den Fernseher, vermeiden Blickkontakt.
Das Leben im Kriegsgefangenenlager gleicht dem in einem Gefängnis. Einen dicken Schlüsselbund hat der Leiter der Einrichtung. Türen bleiben hier nie unverschlossen. Der Tag beginnt um sechs. Den Insassen stehe es frei, zu arbeiten und etwas Geld zu verdienen. Die Köche werden von den Insassen bestimmt. Private Sachen sind nicht erlaubt. Sie lagern in beschrifteten Plastiksäcken im Außenbereich. Zwischen den Werkstätten, der Kantine, dem Spitalstrakt, dem Telefonbereich, wo die Insassen mit Angehörigen sprechen können, oder den Wohnbereichen dürfen sich die Insassen nur unter Aufsicht bewegen. Ein langsamer Trott zwischen Mauern und in Korridoren.
An den Wänden: Geschichtsunterricht in Bildern. Da hängen die gesammelten Porträts ukrainischer Hetmane - die über Jahrhunderte gewählten Oberhäupter der ukrainischen Kosaken. An anderer Stelle: Der Text der ukrainischen Nationalhymne für die, die Russland geschickt hat, um die Ukraine heim ins russische Reich zu holen. Die beginnt mit den Worten: "Der Ruhm der Ukraine und ihre Freiheit sind noch nicht verschwunden."
Seit September sei er nun also hier, erzählt Aleksander, der Koch, jetzt doch mitteilungswillig. In der Region Kharkiw sei er gefangen genommen worden. Politisch sei dieser Krieg, sagt er. Das ist aber auch wieder schon alles. Dann meint er: davon verstehe er nichts. Er wolle wieder arbeiten, warte auf seinen Austausch. Das sei alles. Schweigen. Er klatscht noch mehr Erdäpfel, noch mehr Suppe, noch mehr Fleisch auf Teller.
Im Gezerre um Austausche haben manche Gefangene für Russland einen höheren Marktwert als andere. An Ukrainern wie Aleksander, die von den russisch-unterstützen Regionen LNR oder DNR rekrutiert wurden, zeige Russland eher geringes Interesse, wie es heißt. Oder an Wagner-Rekruten. Also solchen Gefangenen, die von der privaten Sicherheitsfirma Wagner in russischen Gefängnissen für Moskaus Krieg rekrutiert wurden: Mörder, Räuber, Diebe, denen eine Amnestie in Aussicht gestellt wurde, so sie sechs Monate überleben.
Auch Wagner-Söldnersind unter den Gefangenen
Die Wagner-Leute sind ein besonderes Kapitel. Wagner ist eine private Söldnertruppe. Die Genfer Konvention gilt allerdings theoretisch nur für Kombattanten regulärer Armeen. Ein Unterschied zwischen Wagner-Leuten und russischen Soldaten werde aber hier nicht gemacht, so ein Vertreter des ukrainischen "Koordinationsstabes für Kriegsgefangene". Und tatsächlich sind in dem Lager auch einige von ihnen.
In der Werkstätte sitzt Ihor nach wie vor bei den Papiersäcken. Er streicht Leim, redet über Zentralrussland und die Ukraine, die "ur-russisch" sei, reicht das Werkstück weiter, der Mann neben ihm faltet es wortlos, ein anderer presst die Klebestellen. Wieder ein anderer fädelt Schnüre durch vorgestanzte Löcher und bindet sie zusammen.
Zusammengeklebt werden hier Souvenir-Säcke für die ukrainische Stadt Lwiw, die Hochburg aller ukrainischen Unabhängigkeits- und West-Bestrebungen. Die Ansicht einer sehr alten mitteleuropäischen Stadt ist da zeichnerisch abgebildet, samt gotischer Kathedrale. Keine Kuppeln, kein orthodoxes Zuckerwerk. Lwiw war in seiner Geschichte polnisch, ukrainisch, habsburgisch und dann eben auch sowjetisch. Ob er denn jemals in Lwiw gewesen sei? Nein, sagt Ihor und pinselt wortlos weiter.