Experten schätzen, dass rund ein Drittel der 3 Millionen Arbeitnehmer in Österreich - gemessen an ihren Interessen und Fähigkeiten - eine falsche Bildungs- und Berufsentscheidung treffen. Am Mittwochabend diskutierten nun auf Einladung von "Management Club" und "Wiener Zeitung" der Berufspsychologe Othmar Hill mit dem Wifi-Bildungsexperten Michael P. Walter unter der Moderation von Markus Gruber, Herausgeber des "Career"-Handbuches und Leiter einer PR-Agentur, sowohl über die Kosten als auch über mögliche Auswege aus diesem Dilemma.
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Rund 225.000 Bildungs- und 125.000 Berufsentscheidungen werden in Österreich jährlich getroffen. Allein 96.000 Kinder stehen pro Jahr vor der Frage nach dem "Wohin" nach der Volksschule: AHS oder Hauptschule?
Im Alter von 14 Jahren müssen sich knapp 67.000 Haupt- und 25.000 AHS-Schüler für ihren weiteren Bildungsweg entscheiden. Nur wenig später stehen Lehrlinge bereits vor der Qual der Wahl ihres Berufes, etwas darauf Maturanten vor den grundsätzlichen Alternativen Beruf, Universität oder - erst seit kurzem - Fachhochschule. Jede einzelne dieser Entscheidungen hat schwerwiegende Konsequenzen, bestimmt sie doch maßgeblich, wenn auch nicht absolut, den künftigen Lebensweg mit.
Jeder 3. Arbeitnehmer trifft falsche Berufsentscheidung
Experten schätzen, dass rund ein Drittel der 3 Millionen Arbeitnehmer eine falsche Berufsentscheidung treffen. Schätzen deshalb, weil bis heute keine detaillierte Studie zu diesem brisanten Thema existiert. Lediglich aus einer repräsentativen Umfrage des Instituts Dr. Brunmayr unter Lehrlingen lässt sich erahnen, wie weit reichend das Problem in der Realität tatsächlich ist: Unglaubliche 60 Prozent der befragten Lehrlinge im ersten Lehrjahr beantworteten die Frage "Würden Sie Ihren jetzigen Beruf nocheinmal wählen?" mit "auf keinen Fall" bzw. "wahrscheinlich nein". Im dritten Lehrjahr verringert sich dieser Anteil auf immer noch beachtliche 44 Prozent.
"Gigantische Vergeudung" - beruflich wie persönlich
"Manche merken nie, dass sie eine falsche Entscheidung getroffen haben", erzählt der Berufspsychologe Hill aus seiner persönlichen Erfahrung, da sie aufgrund ihrer Berufswahl weder besonders unglücklich noch außergewöhnlich frustriert seien. Für den Personalcoach Hill ist jedoch entscheidend, "dass diese Menschen gar nicht bemerken, auf welcher 'Schatztruhe' an persönlichen Potenzialen sie sitzen."
In diesem Umstand sieht Hill eine "gigantische Vergeudung" an Human-Ressourcen, sowohl für den Einzelnen wie auch für die gesamte Volkswirtschaft. Er nennt - quer durch alle Berufs- und Bildungsgruppen - ein Verhältnis von annähernd 4:1 zwischen der Leistungskraft von Best- und Mindestleistern. Die volkswirtschaftlichen Kosten, die sich für Österreich aus der Summe sämtlicher falscher Bildungs- und Berufsentscheidungen ergibt, belaufen sich nach einer groben Schätzung auf rund 10 Mrd. Euro pro Jahr.
Jugendliche kennen mit 16 ihre Interessen . . .
Was aber ist in diesem Zusammenhang eine "falsche" Entscheidung? Für Hill bedeutet dies, wenn jemand seinen Neigungen und Interessen nicht folgen bzw. diese nicht mit einem geeigneten Beruf kombinieren kann. Von der Persönlichkeitsentwicklung her sind bei Jugendliche die Interessen zwischen 15 und 16 Jahren voll entwickelt. Allerdings sind sie in diesem Alter noch nicht fähig, diese Interessen auch mit einem entsprechenden Berufsbild zu kombinieren.
. . . müssen sich jedoch bereits mit 14 entscheiden
In Österreich jedoch sind die Jugendlichen gezwungen, bereits mit dem Abschluss von Haupt- bzw. AHS-Unterstufe, also im Alter von 14 Jahren, eine erste entscheidende Weichenstellung vorzunehmen. Für Gruber "ein klassischer Fehler im österreichischen Bildungssystem".
Dazu kommt, dass kaum einem Jugendlichen bewusst ist, dass er sich zwischen 2.000 Berufsbildern entscheiden kann. Allein in den letzten Jahren seien rund 400 neue Berufe entstanden und durch die bevorstehende EU-Erweiterung könnten in kurzer Zeit noch einmal so viele entstehen, ist Hill überzeugt. In der Realität glaubten jedoch viele immer noch, ihnen bliebe nur die "Qual der Wahl" zwischen Rechtsanwalt, Arzt, Lehrer oder Mechaniker bzw. Sekretärin, Friseuse und Kindergärtnerin.
"Diese Gesellschaft ist ohne Berufsberatung"
Die Familie steht laut Umfragen an erster Stelle, wenn es darum geht, wer die Jugendlichen bei ihren Berufs- und Bildungsentscheidungen beeinflusst. Die Mutter rangiert dabei mit rund 42 Prozent knapp vor dem Vater, Vorbilder kommen auf 28 und Freunde auf 23 Prozent, während professionelle Berufs- und Schulberater mit 12 Prozent und weniger weit abgeschlagen landen. Offensichtlich gelingt es dem Bildungssystem in dieser Frage nicht, effiziente Hilfestellung anzubieten, obwohl doch Berufsorientierung als Unterrichtsprinzip in der Oberstufe im Ausmaß von 30 Stunden existiert.
All dies zusammen genommen - der hohe Stellenwert unprofessioneller sowie die mangelnde Effizienz der schulischen Beratung - führt für Hill zu dem Schluss, dass "diese Gesellschaft ohne Berufsberatung" ihr Auslangen findet. Ihm selbst wurde in seiner Jugend bei der Inskription von einer Studentenberaterin vehement von seinem Wunschstudium Psychologie abgeraten. Hill ließ sich nicht beirren, machte seine Neigung zum Beruf und ist heute erfolgreicher Personalberater mit Büros in mehr als 40 Ländern.
Kein Wunder, dass Hill von einer "dilettantischen Beratung von Lehrern und Freunden" spricht und vehement die Einbeziehung professioneller Berufspsychologen in die Bildungs- und Berufsentscheidung vor allem junger Menschen fordert. Schon um rund 300 Euro sei eine professionelle Berufsberatung zu haben. Angesichts der Tragweite der Entscheidung ein vergleichsweise bescheidener Betrag.
Eine wesentliche Verbesserung der Grundlage für Berufsentscheidungen verspricht Wifi-Experte Walter vom engen Kontakt zwischen Schule und Wirtschaft. In Projekten wie "Junior" werde Jugendlichen - in enger Kooperation von Schule und Wirtschaftskammer - ermöglicht, auf spielerische Art unternehmerische Erfahrung zu sammeln und so herauszufinden, ob für sie die Selbständigkeit eine sinnvolle Alternative zum Arbeitnehmerdasein bildet. Aber auch sonst ist das Hineinschnuppern in den beruflichen Alltag für Walter eine sinnvolle Möglichkeit, die Jugendlichen vor einer wichtigen Entscheidung konkrete Informationen bieten kann.
Um die "riesigen Unterschiede" in den Beratungsleistungen zwischen den verschiedenen Schulformen auszugleichen, plädiert Walter eindringlich für einheitliche Qualitätsstandards bei der Ausbildung.
Die Lehrer sind der entscheidende Hebel
Schließliche seien die Lehrer "der entscheidende Hebel" für Verbesserungen in diesem Bereich und wichtige Multiplikatoren. Dazu zähle auch, Lehrern einen "sanften Ausstieg" aus ihrem Beruf zu ermöglichen. Denn nichts sei für den schulischen Erfolg von Jugendlichen fataler als demotivierte bzw. überforderte Lehrkräfte, so Walter. In der Idee einer mittleren Schulreife, wie sie etwa Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl schon seit längerem fordert, sieht Walter einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma, weit reichende Bildungs- und Berufsentscheidungen bereits "vor der Zeit" treffen zu müssen.
Einig waren sich die Diskutanten, dass nachhaltige Reformen am österreichischen Schulsystem in relativer kurzer Zeit zu beachtlichen Erfolgen in diesem Bereich führen könnten. Außerhalb der Schule könne man mittlerweile bei rund 400 Berufspsychologen Rat suchen und auch Organisationen wie Wifi, AMS und zahlreichen andere verstärken ihre Bemühungen im Bereich der Bildungs- und Berufsberatung. So bietet etwa seit kurzem das AMS auf seiner Homepage unter http://www.berufskompass.at eine von Hill entworfene Orientierungshilfe für die Berufswahl gratis an.
Studiengebühren nur für Test-Verweigerer?
Vorstellen könnte sich Hill auch, Studiengebühren nur jenen Studenten abzuverlangen, die sich entweder überhaupt einer Beratung durch einen Berufspsychologen bei Studienbeginn verweigern oder dessen Ratschläge bewusst ignorieren. Im letzteren Fall wären die Gebühren dann eine Drop-out-Versicherung, erläutert Hill. Schließlich entstünden durch ein Studium erhebliche Kosten für eine Volkswirtschaft, die im Falle einer nicht adäquaten Beschäftigung unwiederbringlich verloren seien.
Geringer Stellenwert von Human-Ressourcen
Während unsere Gesellschaft stolz darauf sei, dass wir "jedes Milchpackerl recyclen, behandeln wir unsere Human-Ressourcen letztklassig", ist Hill überzeugt. Die Wiederverwertbarkeit menschlicher Potenziale hinke gegenüber jener der Sachgüter weit hinter her.
Dazu zähle auch, dass der Faktor Intelligenz weit überschätzt werde. Sehr viel wesentlicher für den Erfolg des Einzelnen sei demgegenüber, dass dessen Beruf mit seinen Interessen und Fähigkeiten übereinstimme. Auch der Schule sollte im schwierigen Alter der Pubertät keine überragende Rolle beigemessen werden, rät Hill am mangelnden schulischen Ehrgeiz ihrer Zöglinge verzweifelnden Eltern. Schließlich sei diese "nach der Geburt die zweite lebensbedrohende Krise eines jeden jungen Menschen".