VfGH rügt Unklarheiten. | Unsicherheit im Rechtsleben. | Von Grammatikfehlern bis zu Widersprüchen. | Wien. Die Anwendung von Rechtsvorschriften erfordert es, diese zu verstehen. Die Verständlichkeit des authentischen Textes einer Rechtsvorschrift erspart uns zwar nicht die Interpretation, aber sie stellt diese auf einen sichereren Grund. Das gilt für Rechtstexte überhaupt, für Gesetze, Verordnungen, Verträge, Urteile und Bescheide.
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Über den Ist-Zustand bei der Gesetzgebung hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) in einem seiner letzten Tätigkeitsberichte sehr deutlich formuliert: "Der Verfassungsgerichtshof beobachtet seit geraumer Zeit, dass allein die Feststellung der für die Lösung eines Falles maßgeblichen Rechtslage oftmals sehr zeitaufwendig und es darüber hinaus in vielen Fällen ausgesprochen schwierig ist, das vom Gesetzgeber Angeordnete zu verstehen . . ."
Die wichtigsten Gründe für diese Situation sollen im Folgenden kurz genannt werden:
Systematischer Aufbau der Regelungen
Häufig leidet die Verständlichkeit von Rechtstexten darunter, dass das Verhältnis verschiedener gesetzlicher Regelungen zueinander unklar bleibt. Dabei geht es sowohl um das systematische Zusammenpassen verschiedener Regelungen, als auch um das Problem des systematischen Aufbaus einzelner Gesetze; ja mitunter sind nicht einmal einzelne Paragraphen in sich systematisch aufgebaut. Abgesehen davon, dass es oft gar nicht einfach ist, die Bestimmungen in ihrer Gesamtheit zu überblicken, stellen sich ganz grundsätzliche Fragen ihres Verhältnisses zueinander.
Undeutlichkeit von Formulierungen
Eine weitere häufige Ursache für die erschwerte Verständlichkeit von Rechtstexten ist die Undeutlichkeit verwendeter Begriffe und Wortfolgen. Dies ist oft auf die mangelnde Präzision bei der Formulierung zurückzuführen; auch die Übernahme undeutlicher Begriffe aus bestimmten Fachsprachen oder die Anordnung von Selbstverständlichem macht Probleme.
Von ganz wesentlicher Bedeutung für die Rechtsetzung ist die Präzision der Sprache, die vom Rechtsetzer verwendet wird, wenn er Gesetze erlässt, Verträge formuliert oder Urteile oder Bescheide erlässt. Ohne ausreichende sprachliche Präzision ist es oft schwer, den authentischen Rechtstext zu ermitteln. Beispiele hiefür gibt es leider sehr viele, von primitiven Grammatik-Fehlern wie dem Wechsel von Einzahl und Mehrzahl, unvollständigen Sätzen und extrem langen Schachtelsätzen über unklare Begriffsschöpfungen und sprachlich einfach unverständlichen Regelungen bis zu unsinnigen "No-na-Bestimmungen".
Fehler bei legistischer Umsetzung
Zu all dem kommen noch Schlampigkeiten bei der legistischen Umsetzung, die mitunter neue Interpretationsprobleme aufwerfen: Fehlverweisungen etwa oder der Verzicht auf die Anpassung von Verweisungen, wenn die verwiesenen Normen ihren Inhalt ändern: Da wird zwischen einem Absatz 1 und einem Absatz 2 ein neuer Absatz 2 eingefügt, und der bisherige Absatz 2 wird zum Absatz 3. Die Verweisung auf den Absatz 2 wird nicht angepasst; ist jetzt auf den neuen Absatz 2 oder auf den neuen Absatz 3 oder auf beide verwiesen?
Ganz speziell gefährdet sind In-Kraft-Tretens-, Außer-Kraft-Tretens- und Übergangsbestimmungen. Einen Höhepunkt erreichte hier die In-Kraft-Tretens- und Außer-Kraft-Tretensbestimmung des § 188 Bundesvergabegesetz 2002. Das beginnt schon damit, dass nach Absatz 1 für die im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens eingeleiteten Vergabeverfahren dieses Bundesgesetz nicht gilt und nach Absatz 6 das frühere Gesetz zugleich mit dem In-Kraft-Treten dieses Bundesgesetzes außer Kraft tritt. Das bedeutet streng genommen, dass für diese anhängigen Verfahren keinerlei gesetzliche Regelung Anwendung finden kann.
Das kann natürlich nicht gemeint sein, und daher bemüht man sich um eine harmonisierende Interpretation; andernfalls wären für diese Fälle bloß die unmittelbar anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Regelungen anzuwenden.
Recht ist nicht mehr berechenbar
Die mangelhafte Verständlichkeit des Rechts erschwert die Interpretation und bringt dadurch Unsicherheit in das Rechtsleben. Das Recht verliert an Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit. Die rechtlichen Konsequenzen von rechtlich relevantem Handeln werden zweifelhaft, die Tätigkeit der Staatsorgane unvorhersehbar und schwerer berechenbar.
Die Steuerungsfunktion und die Ordnungsfunktion des Rechts leiden erheblich. Aber es gibt auch Rechtstexte, die einer sinnvollen Interpretation überhaupt nicht mehr zugänglich sind. In diesen Fällen muss das zur Entscheidung berufene Organ unter "Ausreizen" aller denkbaren Interpretationsmöglichkeiten eine sachgerechte Lösung finden. Ist aber auch so eine Lösung nicht mehr möglich, so kann die Norm vor dem Rechtsstaatsgebot nicht mehr bestehen.
Subtile Sachkenntnis nicht erforderlich
In seiner bekannten Denksportentscheidung hat der VfGH gesagt, dass das Rechtsstaatsgebot ein Mindestmaß an Verständlichkeit von Normen verlangt. Dem entspricht eine Rechtsvorschrift nicht, die "nur mit subtiler Sachkenntnis, außerordentlichen methodischen Fähigkeiten und einer gewissen Lust zum Lösung von Denksport-Aufgaben überhaupt verstanden werden kann".
Karl Korinek ist Präsident des Verfassungsgerichtshofes. Der ausführliche Beitrag erscheint auch in der "Versicherungsrundschau" des Verbands der Versicherungsunternehmen Österreichs und der Österreichischen Gesellschaft für Versicherungsfachwissen.