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50 Jahre ist es heuer her, dass George F. Kennan verärgert den diplomatischen Dienst der USA verließ. Zum Glück habe ich seine 1967 erschienenen "Memoiren eines Diplomaten" (Deutsch 1971 bei dtv), die mir wieder einmal in die Hände fielen, an einer Schlüsselstelle aufgeschlagen. In diesem Buch finden sich Sätze, deren Aktualität den heutigen Leser kalt anweht. Denn so manches, was so mancher nur zu gern für typische Entgleisungen der Bush-Administration hält, zählt offenbar zu den Konstanten amerikanischer Politik. Wie sich die Bilder gleichen: Schon Kennan registriert "das Alptraumhafte der Scheinwelt, in die das amtliche Washington und große Teile unserer öffentlichen Meinung sich hineinsteigern können, wenn statt der Vernunft Leidenschaft, Ärger und Furcht unser nationales Leben beherrschen."
Washingtons Weltsicht, so Kennan in seinem zornigen Rückblick, werde "weniger von der objektiv erfaßbaren Wirklichkeit bestimmt ... als von der subjektiven Bereitschaft seiner Würdenträger, dieses oder jenes Stück davon in sich aufzunehmen." Nachdem er sich jahrelang mit der Frage beschäftigt habe, "ob eine so beschaffene Regierung sich einbilden dürfe, daß sie fähig sei, eine wohldurchdachte, beständige und umsichtige Außenpolitik zu betreiben", neige er "immer mehr dazu, die Frage zu verneinen."
Er verfügte über reiche Erfahrung. 1941 wurde er nach Deutschlands Kriegserklärung an Amerika als ranghöchster US-Diplomat mit dem gesamten Botschaftspersonal interniert - nach der Freilassung ließ Washington sie statt jedes Dankes wissen, die Monate in deutscher Haft würden nicht bezahlt, da sie ja nicht gearbeitet hätten. In Lissabon lernte Kennan sodann Washingtons totale Missachtung für Meinungen und Ratschläge seiner vor Ort tätigen Diplomaten kennen. Dass er die geradezu grotesken Pannen im Verkehr mit dem wegen der benötigten Flugplätze auf den Azoren für die USA eminent wichtigen Diktator Salazar auf eigene Faust ausbügelte, hätte fast mit einem Rüffel geendet.
Dass ein mediokrer General einen Chinakenner, der ihn zuerst vor einer zu vertrauensvollen und dann vor einer zu aggressiven Politik gegenüber den chinesischen Kommunisten warnte, bei guter Gelegenheit als Kommunistenfreund denunziert, mutet wohl auf der ganzen weiten Welt bekannt an.
Jahrelang machte sich der junge Diplomat mit scharfsinnigen, alsbald in den Schubladen des State Departments abgelegten Analysen Luft - bis plötzlich seine Stunde kam. Im Mai 1945 prophezeite er, "dass viele der betroffenen Völker der russischen Herrschaft mit Unruhe und Widerwillen begegnen werden. Und erfolgreiche Revolten gegen Moskaus Autorität könnten das ganze Gebäude der Sowjetmacht erschüttern." Im Februar 1946 sandte er sodann dem State Department aus Moskau eines der längsten Telegramme in der Geschichte diplomatischer Depeschen. Er fegte Washingtons von Roosevelt herrührende Illusionen über Stalin als gutem Uncle Joe vom Tisch und forderte eine harte Politik gegenüber Moskau. Und da er dies genau im richtigen Augenblick tat, wurde sein Telegramm ausnahmsweise nicht schubladiert, sondern ging als Startschuss zum Kalten Krieg in die Geschichte ein.
In seiner zweiten Karriere als Universitätsprofessor und Autor zahlreicher Bücher erhielt Amerikas bester Russlandkenner 25 Ehrendoktorate, zwei Pulitzerpreise und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Einerseits diagnostizierte er bereits 1946 Stalins paranoides Misstrauen: Selbst wenn die USA ihre Luftwaffe und Flotte der Sowjetunion übergäben und Amerikas Kommunisten ins Weiße Haus einzögen, schrieb er 1946, "würde Stalin dahinter eine Falle wittern". Andererseits missfiel ihm "die hysterische Form des Antikommunismus, die allem Anschein nach in unserm Land immer mehr um sich greift": Einige Ideen des sowjetischen Kommunismus seien "vermutlich wirklich die Ideen der Zukunft". Er trat für atomare Abrüstung und den Ost-West-Ausgleich ein und litt darunter, selbst noch von Ronald Reagan als Vordenker des Kalten Krieges instrumentalisiert zu werden.
Eine Lehre dieser Wiederbegegnung ist aber auch, wie gründlich ein so klarer, weitblickender Geist wie George F. Kennan danebenhauen kann. Er lehnte den Nürnberger Prozess vor allem wegen der Teilnahme eines sowjetischen Richters ab und hätte es lieber gesehen, "die alliierten Befehlshaber anzuweisen, jeden dieser Männer, der ihnen in die Hände fiel, nach zweifelsfreier Identifikation sofort zu exekutieren."