Unterricht mit dem Laptop, Wählen am Computer. Wovon Wien noch träumt, ist in Estland schon Realität.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Tallinn. Wer was werden will, muss schreiben, rechnen, lesen können. Ein Grundsatz, der seit Jahrzehnten in europäischen Bildungseinrichtungen gilt. Nicht so in Tallinns Realschule. Hier gehen die Lehrer einen Schritt weiter, hier wurde der Grundsatz adaptiert: Wer was werden will - so heißt nun - muss rechnen, schreiben, lesen und programmieren können.
Jaanika Lukk bewegt sich langsam durch die Klasse. Ihr Blick schweift über die Schultern der Schüler, die still vor ihren aufgeklappten Laptops sitzen. "Wir beginnen mit Microsoft Word, PowerPoint und Google Drive", erklärt die Lehrerin und zählt ein paar Programme auf. "Am Ende können sie Roboter und Spiele programmieren", fügt sie hinzu.
Eine Stunde pro Woche werden die Schüler der Realschule in Programmieren unterrichtet, beginnend bei den Neunjährigen in der dritten Schulstufe bis zum Abschluss. Lukk zeigt auf einen gelben Plastikkoffer, den sie auf dem Lehrertisch abgelegt hat. Darin die Einzelteile der Laptops. "Die Schüler sollen auch lernen, wie die Geräte zusammengesetzt sind", sagt sie.
Der Fokus auf digitale Bildung ist in Estland nichts Ungewöhnliches. Das Land im Baltikum liegt in dem Bereich an der Spitze Europas. Knapp doppelt so viele Menschen wie in Österreich bilden sich in dem baltischen Land online weiter. Im Pisa-Ranking, die internationale Studie der Schulleistungen, gehört Estland schon seit Jahren zu den Besten. Was macht Estland anders? Warum steht es so weit vorne?
Das Land hat es als einziges weltweit geschafft, den Kontakt zwischen dem Staat und seinen Bürgern zu digitalisieren. 99 Prozent des staatlichen Dienstangebots sind online. Alle Bewohner, auch alle Ausländer, verfügen über eine elektronische ID mit einem Personalcode. Unter https://www.eestie.ee kann jeder Behördenweg online erledigt werden, also fast jeder. Heiraten, Scheidung, der Verkauf von Immobilien können nicht online abgewickelt werden.
Der radikale Schritt hängt mit der Geschichte des Landes zusammen. Als Estland 1991 von der Sowjetunion unabhängig wurde, klaffte ein riesiges Loch in der Staatskasse. Nur 130 Millionen Euro betrug das Staatsbudget im Jahr 1992. Gleichzeitig wohnen auf der Größe von Holland nur 1,3 Millionen Menschen, in Holland wohnen 17 Millionen Menschen. Zu teuer und umständlich wäre es gewesen, eine behördliche Infrastruktur aufzubauen. Estland wählte daher den digitalen Weg.
Der eigenwillige Weg des Landes an der Ostsee hat sich herumgesprochen. Politiker, Beamte, Unternehmer aus anderen Staaten pilgern seither regelmäßig nach Tallinn. Im Showroom E-Estonia werden die Vorzüge des Systems präsentiert. Zu sehen gibt es einen automatisierten Postroboter, Fotos der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama bei ihrem Besuch, und natürlich ein Poster mit dem Werdegang von Skype, das in Tallinn entwickelt wurde.
"Diesen Code gibt es nur einmal"
Im Showroom zeigt sich das digitale Estland von seiner besten Seite. Bedenken werden von Florian Marcus, einer der Präsentatoren, ausgeräumt. Stolz zeigt er seine estnische ID mit seinem elfstelligen Personalcode. "Diesen Code gibt es nur einmal", sagt er. "Und das bin ich." Wenn er etwa seine Steuererklärung ausfüllt, sieht die Behörde nur den Code. Gesundheitsdaten, Arbeitslosenzeiten, die Einberufung ins Militär. Informationen, die alle auf der ID gespeichert werden. Informationen, die neben Behörden, jedoch auch von jeweils zuständigen Berufsgruppen abgefragt werden können. "Ich sehe aber, wenn ein Arzt sich meine Gesundheitsdaten ansieht", sagt Marcus. Missbrauch würde hart bestraft werden, ergänzt er.
Seit 2005 kann in Estland auch online gewählt werden. Ein Drittel der Bevölkerung gab zuletzt online seine Stimme ab. "Man kann so oft wählen, wie man will", erklärt Marcus. "Nur die letzte abgegebene Stimme wird gewertet." Es besteht aber nachwievor die Möglichkeit, ins Wahllokal zu gehen. Auf die Frage, ob die Daten der Esten nicht von Hackern geknackt werden können, wiegelt Marcus ab. Die Daten liegen auf mehreren Servern, es könne also nie das ganze System gehackt werden.
Die digitale Welt gehört heute zum estnischen Selbstverständnis. Ein Selbstverständnis, das schon in der Schule vermittelt wird. Digitale Kompetenz ist verankert im nationalen Curriculum. 85 Prozent der estnischen Schulen nutzen e-School. Aufgaben, Noten, Fehlstunden, sie alle sind digital für Lehrer, Schüler und Eltern einsehbar. Bald soll das gesamte Unterrichtsmaterial online einsehbar sein.
In Österreich hinken die Schulen der digitalen Entwicklung hinterher. Vereinzelt gibt es Eigeninitiativen, wie in den Neuen Mittelschulen Koppstraße und Feuerbachstraße in Wien. Die "Wiener Zeitung" hat berichtet. Der große Wurf fehlt jedoch. Vergangenes Jahr verkündete die Regierung die Ausarbeitung eines Masterplans für Digitalisierung an Schulen. Zuletzt wollte man diesen Ende Februar präsentieren.
Die Reise nach Estland erfolgte auf Einladung der Agenda Austria, ein wirtschaftsnaher Thinktank rund um den ehemaligen Präsidenten der Industriellenvereinigung, Veit Sorger. Im Thinktank sieht man den baltischen Staat als Vorbild für Österreich. "Mit der Digitalisierung können sich die Lehrer wieder ihren ureigenen Aufgaben widmen", sagt Hanno Lorenz, zuständig für den Bereich Digitalisierung in der Agenda Austria. Und auch die Schüler bekommen die Möglichkeit, individuell zu arbeiten, ihre eigenen Fähigkeiten weiterbilden. "Auch die leistungsschwachen Schüler werden mitgenommen", sagt Lorenz. "Das sieht man gut in Estland. Es gibt hier de facto keine leistungsschwachen Schüler." Auf die Frage, ob dann auch die Gesamtschule für Österreich denkbar wäre, antwortet Lorenz nach einer kurzen Pause: "Warum nicht. Darüber kann man nachdenken."
IT-Experte in der Klasse
Zurück in der Realschule. Neben der Lehrerin Jaanika Lukk steht auch ein IT-Experte in der Klasse. Er hilft bei technischen Problemen, ist gleichzeitig der Ausbildner der Lehrerin. Sie schätzt seine Hilfe. "Ich kann mich voll auf den Unterricht konzentrieren", sagt sie. Neben Programmieren lehrt die Lehrerin Estnisch, Mathematik und Werken. Auch in diesen Fächern arbeiten die Schüler auf dem Laptop.
Direktorin Ene Saar ging in die Schule, als Estland noch sowjetisch war. "Wir sind ein kleines Land und müssen uns behaupten", sagt sie. Für sie ist es wichtig, dass die Schüler mehrere Sprachen sprechen. Neben Englisch wird in ihrer Schule auch Russisch und Deutsch unterrichtet. "Wir sind nur 1,3 Millionen Menschen. Mit Estnisch allein, kommen wir nicht weit." Wichtig sei es aber auch, die Sprache der digitalen Welt zu kennen, sagt sie.
Neben dem Fach Programmieren wird an der Realschule etwa auch das Freifach Robotik angeboten. Stolz zeigen die Schüler auf ihre selbst gebastelten Roboter aus Lego. Auf einem Tisch haben sie einen Parcours aufgebaut, den die Roboter bewältigen müssen. Im internationale ausgetragenen Wettbewerb Lego League stehen sie im Halbfinale. "Wir müssen es schaffen, dass unsere Roboter in zweieinhalb Minuten möglichst viele Missionen schafft", sagt die 14-jährige Schülerin Katarina. Nach einer kurzen Vorführung lächelt sie. "Ich glaube, wir müssen noch trainieren."
Kurze Zeit später klingelt es zur Pause. Die Schüler packen ihre Laptops und verstauen sie in einer Garderobe am Gang. Es ist eine Pause nicht nur vom Unterricht, sondern auch von Laptops, von Computern, vom Handy. Es ist nicht erlaubt, ein Handy in der Pause zu verwenden, betont die Direktorin. Dann sagt sie: "Es gibt auch noch eine Welt, die nicht digital ist."