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Gestrandet bei Freunden

Von Wolfgang Weitlaner

Reflexionen

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Als Flugkapitän Reinhard Knoth am Vormittag des 11. September 2001 seine Boeing 747-200 vom Flughafen Frankfurt/Main Richtung New York startet, ahnt weder er noch einer der 375 Passagiere an Bord, dass diese Reise in der Kleinstadt Gander in Neufundland enden wird. Knapp zwei Stunden vor der geplanten Landung am John-F.-Kennedy-Airport greift Knoth zum Bordmikrophon und verkündet, dass aufgrund einer Überlastung des Luftraumes in New York ein Zwischenstopp erforderlich wird.

Freundliche Zöllner

Erst nach dem Aufsetzen des Jumbos in Gander klärt Knoth die Passagiere über die Terroranschläge auf. Rund zehn Stunden müssen alle noch an Bord des Flugzeuges ausharren, ehe sie aussteigen dürfen. Mit gelben Schulbussen werden sie von der Landebahn, die inzwischen zu einem Parkplatz für 38 Großraum-Flugzeuge geworden ist, zum Terminal gebracht. Ausgeladen werden allerdings nur die Passagiere, nicht jedoch das eingecheckte Gepäck, das im Laderaum der Flugzeuge bleibt. "Im komplett überfüllten Flughafengebäude wurden wir von Zöllnern freundlich begrüßt", erzählt Johannes Luxner, ein österreichischer Student, der mit seinem Freund Andreas Pils zur Red Bull Music Academy unterwegs war.

Als am 11. September um 8:46 Uhr das erste Flugzeug in das World Trade Center rast, glaubte man an noch an einen tragischen Unfall. Knapp eine Viertel Stunde später, genau um 9:03 Uhr, fliegt das zweite Flugzeug in den zweiten Turm des Gebäudes. Spätestens jetzt weiß man, dass es sich um einen Terrorangriff handelt.

Nur acht Minuten später lässt die US-Flugsicherheitsbehörde FAA sämtliche Airports in New York schließen. Um 9.45 Uhr - nach dem Absturz eines dritten Jets ins Pentagon in Washington - wird der gesamte US-Luftraum für sämtliche Luftfahrzeuge gesperrt.

Gemeinsam mit der kanadischen Flugsicherungsbehörde NAV-Canada beginnt die Opera- tion Yellow Ribbon. Ziel ist es, alle Flugzeuge mit einem Zielflughafen in den USA entweder zum Startflughafen zurückzuschicken oder in Kanada zur Landung zu bringen. Damit sollten weitere potenzielle Angriffe auf die USA abgewehrt werden. Bevorzugte Flughäfen waren die Airports in den dünner besiedelten Regionen Nova Scotia und Neufundland.

Für die Flugüberwacher beginnt ein schwerer Tag, denn zum Zeitpunkt der Terroranschläge befinden sich rund 500 Jets mit Zielen in den USA in der Luft. "Es ist eigentlich ein Wunder, dass es bei dieser Aktion keinen Zusammenstoß gab", meint Robert Henning vom Aereal Control Center von NAV-Canada in Gander.

Rund 250 Flugzeuge mit mehr als 40.000 Passagieren müssen in Kanada landen. 47 Jets werden in die Provinzhauptstadt Halifax, die immerhin 370.000 Einwohner hat, beordert. 39 Jets mit 6122 Passagieren und 473 Besatzungsmitgliedern werden in die 10.000-Einwohner-Stadt Gander geleitet. Damit hat sich die Bevölkerung der Kleinstadt über Nacht nahezu verdoppelt.

Größter Flughafen 1938

Als die kommerzielle Luftfahrt in den frühen 1920er Jahren immer mehr an Bedeutung gewann, begann auch ein Bauboom für Flughäfen. Gander war eine solche Boomtown, die als Barackensiedlung für die Errichtung eines Flughafens jenseits des Nordatlantiks begann. Es ging darum, die kürzeste Distanz auf der Atlantiküberquerung zu finden.

Zunächst spekulierte man mit einem Flughafen-Neubau an der Küste, doch häufiger Nebel ließ die Planer umdisponieren. Nördlich des Gander-Lake - etwa 50 Kilometer im Landesinneren - schien die ideale Position für den Bau eines Flughafens zu sein. Im Jänner 1938 wurde Gander erstmals angeflogen. Knapp zehn Monate später ging der Airport mit seinen vier gepflasterten Flugpisten in Vollbetrieb und wurde zum größten Flughafen der Welt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stieg das Passagieraufkommen auf mehr als 250.000 jährlich an. Rund 13.000 Flugzeuge starteten und landeten in Gander, das nun den Beinamen "Crossroads of the World" bekam. 1959 beschloss die kanadische Regierung den Bau eines neuen Terminals. Doch mit der Einführung der vierstrahligen Boeing 707 auf der Transatlantikroute konnte man auf Zwischenlandungen verzichten. Dadurch verlor Gander zunehmend an Bedeutung. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass eine der beiden heute noch verwendeten Startbahnen aufgrund ihrer Länge auch als Notfalllandeplatz für Space-Shuttles diente.

Heute ist der Airport, der nur noch von regionalen Airlines bedient wird, schwer defizitär. Die Militärmaschinen der US-Air-Force, die von und nach Europa hier zwischenlanden, müssen nämlich keine Start- und Landegebühren bezahlen.

Eine Stadt steht Kopf

"Uns war im Laufe des 11. September bald klar, dass unser Airport mit einer großen Menge an umgeleiteten Flugzeugen rechnen musste", schildert Bürgermeister Claude Elliott die Geschehnisse von 2001. Unklar war jedoch, wie lange die "unerwarteten Gäste" bleiben würden. In Gander gibt es rund 550 Gästebetten. Diese blieben den Besatzungsmitgliedern der Flugzeuge vorbehalten.

Innerhalb kurzer Zeit musste sich die Kleinstadt auf die ungewöhnliche Situation einstellen. Schließlich ging es darum, die Passagiere zu versorgen. Schulen, Gemeindehäuser und Versammlungsräume, ja sogar Kirchen wurden zu Notunterkünften umgestaltet. Miteinbezogen wurden auch die umliegenden Gemeinden Gambo, Lewisporte und Gloverton. "Wir wurden ins Gander Collegiate gebracht", erzählt Andreas Pils, der gemeinsam mit seinem Freund Johannes Luxner zehn Jahre nach den Ereignissen für eine TV-Filmdokumentation wieder nach Gander zurückgekommen ist. Beide erinnern sich noch lebhaft an die unglaubliche Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölkerung. Man bemühte sich nach allen Kräften, den Menschen einen möglichst angenehmen Aufenthalt zu ermöglichen.

Die große Eishalle, die im Community Center im Herzen des Kleinstädtchens liegt, wurde kurzerhand zum Kühlhaus für Lebensmittel umfunktioniert, erzählt Kevin Waterman, der heute immer noch für die Kühlung der Halle zuständig ist.

Eilig wurden provisorische Telefonleitungen verlegt, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, mit ihren Angehörigen Kontakt aufzunehmen. In der Stadtbibliothek von Gander wurden einige Computer mit Internetzugängen aufgestellt. Heute noch erinnern Gästebucheinträge an die damalige Zeit. "Wir hatten Gäste aus Kenia, Uganda, Costa Rica, aus vielen europäischen Ländern, aus Südamerika und natürlich viele US-Amerikaner", erzählt Bibliotheksmanagerin Pat Parsons.

Viele Passagiere waren um ihre Familien besorgt. Schrecklich war etwa das Schicksal des Ehepaars Dennis und Hannah O’Rourke, deren Sohn Kevin Feuerwehrmann in Manhattan war. Bis zum Ende des Aufenthalts in Gander konnten sie keinen Kontakt zu ihm aufnehmen. In den bangen Stunden des Hoffens kümmerte sich Beulah Cooper um die beiden und nahm sie bei sich auf. Noch heute ist Frau Cooper sichtlich gerührt, wenn man sie darauf anspricht. Erst fünf Tage nach dem Terroranschlag - und nach ihrer Ankunft in New York - erfuhren die beiden, dass ihr Sohn in den Trümmern des World Trade Center umgekommen war.

Die Frauen in Gander haben Unglaubliches geleistet, da jeder Fluggast kostenfrei versorgt wurde. Stundenlang haben sie damit zugebracht, Eintöpfe zuzubereiten oder Muffins zu backen. Um die Passagiere zu den Unterkünften zu bringen, unterbrachen die Schulbus-Chauffeure, die gerade nach gescheiterten Lohnverhandlungen in Streik getreten waren, sogar ihren Protest. "Wir wussten, dass wir etwas zu tun hatten. Und das haben wir gemacht", sagt der ehemalige Buschauffeur Garry White. "Nachdem die gestrandeten Passagiere abgeflogen waren, haben wir wieder gestreikt. Unsere Forderungen wurden dann auch erfüllt."

"Die Hilfsbereitschaft der Menschen in Neufundland ist unfassbar", schrieb ein Passagier in einem Dankesbrief an die Gemeinde. In drei großen Ordnern sind die Briefe gesammelt und liegen im Foyer des Rathauses auf. "Bewohner haben uns die Haustüre geöffnet und uns auf eine warme Dusche herein gebeten", schreibt ein anderer. "Wenn man zu Fuß auf der Straße ging, hielten Autos an und fragten, ob man mitfahren wolle", schildern die beiden Österreicher.

Keiner wusste, wie lange der "Zwangs-Aufenthalt" in Neufundland schließlich dauern würde. Zuerst dachte man, dass der US-Luftraum nach zwei Tagen wieder geöffnet sein würde. Bei zahlreichen europäischen Airlines wurde auch darüber nachgedacht, aufzutanken und wieder nach Europa zurückzufliegen. Nach der zweiten Nacht war den meisten klar, dass sich der Aufenthalt etwas hinauszögern werde. "Man versuchte uns bei Laune zu halten", erzählt Luxner.

"Es gab die Möglichkeit, mit Locals im Gander-Lake zu angeln oder einen Ausflug in die Wildnis zu unternehmen. Am Abend gab es Bingo oder Karaoke. Damit wir nicht die ganze Zeit über das gleiche Gewand tragen mussten, richtete man Kleiderkörbe ein, in denen man sich frei bedienen konnte."

Die Versorgung und die Bestellung von Nahrungsmitteln waren für die Ladenbetreiber in Gander Schwerarbeit. Das bestätigt auch der Chef des lokalen Coop-Markts, Morley Goodyear. Damit es zu keinen Engpässen kam, stand er drei Tage und drei Nächte durchgängig im Dienst. Die starke Belastung führte zu einem totalen Zusammenbruch. "Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, musste drei Tage dort bleiben, und dann folgten noch zwei weitere Wochen Zwangspause", erzählt Goodyear.

"Wir haben versucht, wirklich alles Menschenmögliche zu tun", sagt er weiter. "So kam eine muslimische Familie zu uns und bat um Halal-Food. Nach langen Telefonaten mit einem Muslim in der Inselhauptstadt St. John’s konnten wir die geeigneten Nahrungsmittel schließlich besorgen."

Rührende Geschichten

Bürgermeister Elliott hat heute noch Tränen in den Augen, wenn er die Geschichte mit den krebskranken Kindern erzählt, die auf dem Weg nach Disneyland waren. "Eine junge Frau hat sich um sie gekümmert und versucht, sie zu unterhalten", erzählt Elliott. "Das Rührende an dieser Geschichte war der Satz eines der Kinder, dass Gander viel schöner sei als Disneyland."

"Gander hat Menschen zusammengeschweißt", sagt Beulah Cooper. Es gab keinen Unterschied, ob ein Passagier in der ersten Klasse oder Economy gereist ist. Alle wurden gemeinsam in den Schlafsälen untergebracht. Wer die Dankesbriefe im Rathaus oder in der öffentlichen Bibliothek liest, entdeckt etwa ein Schreiben der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth, die ebenfalls im Lufthansa-Jumbo auf dem Weg nach New York war. Die Lufthansa hat im Mai 2002 einen Airbus A340 auf den Namen "Gander/Halifax" getauft - als offizielles Dankeschön an die lokale Bevölkerung.

Der damalige Hugo-Boss-Chef Werner Baldessarini war ebenfalls ein gestrandeter Passagier in Gander. Auch er verfasste einen liebenswerten Brief, in dem er sich für die Unterstützung bedankte.

Schlendert man heute - zehn Jahre nach 9/11 - durch die Straßen von Gander und fragt Menschen nach den damaligen Ereignissen, sind viele immer noch gerührt. Fast jeder weiß Geschichten zu erzählen. So gab es in Lewisporte eine Frau aus Texas, die einen Mann aus Schottland kennen lernte. Die beiden haben geheiratet und ihre Hochzeitsreise in Neufundland verbracht. Liebenswert ist auch die Story von Bonnie Harris von der "Society for the Protection of Cruelty to Ani-mals", die sich um die Tiere, die in den Frachträumen der 39 Großraumflugzeuge untergebracht waren, kümmerte. Darunter war ein seltenes Schimpansenpärchen, das für einen Zoo in den USA bestimmt war.

Kevin Tuerff, Chef der PR- und Werbeagentur Enviromedia in Austin/Texas, hat nach seinem Aufenthalt in Gander die Kampagne "Pay It Forward 9/11" ins Leben gerufen. Zwei Teams zweier Angestellter erhalten jedes Jahr am 11. September 200 US-Dollar, um diese für gute Taten gegenüber Fremden auszugeben. Die Idee wurde inzwischen von zahlreichen anderen Unternehmen übernommen. "Wir müssen uns an diese Eintracht und die Freundlichkeit erinnern, die uns während dieser schwierigen Zeit widerfahren ist", meint Tuerff.

"Der Aufruf etwas zu tun, besteht nicht nur darin, in Social-Media-Plattformen darüber zu sprechen, sondern jemandem Fremden wirklich etwas Gutes zu tun."
Wolfgang Weitlaner, geboren 1964, lebt als freier Journalist in Wien. Mit Werner Boote arbeitet er derzeit an einem weiteren, internationalen TV-Film über die "gestrandeten Passagiere" in Gander.

TV-Tipp

Der Dokumentarfilm "Gestrandet in Neufundland"von Werner Boote (bekannt durch seinen Film "Plastic Planet"), der mit einem Filmteam die beiden österreichischen Studenten Johannes Luxner und Andreas Pils, die vor zehn Jahren unter den gestrandeten Passagieren waren, begleitet hat, wird nach der Erstaustrahlung (am 8. September 2011) an folgenden Terminen im Sender Servus-TV wiederholt: Samstag, 10. 9.: 18:05 Uhr, Sonntag, 11. 9.: 11:20 Uhr, Montag, 12. 9.: 15:30 Uhr, und Dienstag, 13. 9.: 9:50 Uhr