Die gesellschaftliche Mitte ist eine Definitionsfrage. Dennoch kämpfen fast alle Parteien um sie - nun auch die SPÖ.
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Wien. "We are all middle class now" - wir sind jetzt alle Mittelschicht. Der Satz von John Prescott, in den späten Neunzigern der Vize des britischen New-Labour-Kanzlers Tony Blair, steht paradigmatisch für das Programm nicht nur der sozialdemokratischen Parteien in den folgenden 20 Jahren. Am Ende der Aufstiegsgeschichte der europäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg waren auch in Österreich die Wähler der Sozialdemokratie in der Mittelschicht angekommen - ob nun gefühlt oder tatsächlich.
Was genau Mittelschicht bedeutet, ist de facto nicht genau zu definieren. Wirtschaftswissenschafter ziehen entweder das Median-Einkommen (die eine Hälfte hat ein höheres, die andere ein niedrigeres Einkommen) oder die vom Einkommen zu leistende Steuerlast heran. Die Spannweite reicht hier von rund 60 Prozent der Bevölkerung bis zu 75 Prozent. Führt man eine Umfrage durch, in der die Befragten sich selbst in der sozialen Skala einordnen sollen, so zählt sich fast jeder zur Mitte. Reiche nivellieren sich nach unten, weniger Wohlhabende oder gar Arme wollen sich nach unten hin abgrenzen. Wir sind alle Mittelschicht.
Zwischen den Stühlen
Wenig verwunderlich also, dass im Dauervorwahlkampf nun auch die SPÖ ganz auf die Mitte setzt. Im 3. Wiener Gemeindebezirk inszenierte sich jüngst SPÖ-Chef und Bundeskanzler Christian Kern als Pizzabote - um die konkreten Anliegen und Sorgen der Mittelschicht kennenzulernen, wie das entsprechende SPÖ-Video suggeriert. Das Netto-Medianeinkommen im Jahr liege im 3. Bezirk nämlich genau an jenem der Bundeshauptstadt insgesamt, ist in einem Manual zur Aktion für SPÖ-Mitarbeiter zu lesen. Das interne Paper spricht auch sonst Bände. Es ist ein Zeugnis des noch nicht ausgegorenen Bemühens einer Partei, auf die geänderte Struktur ihrer Anhängerschaft und auf die komplexen Herausforderungen der sich rasch verändernden Arbeitswelt zu reagieren.
"Die SPÖ ist stolz auf ihre Herkunft aus der Arbeiterbewegung", ist zu lesen. Mit der digitalen Revolution stehe ein gesellschaftlicher Umbruch wie bei der Industriellen Revolution an. Trotz Mittelschicht-Fokus wolle man die "sozial Schwachen (...) unterstützen, ein Teil der starken Mittelschicht zu werden". "Es geht euch nicht um uns" - das sei ein Satz, den man oft zu hören bekomme. Viele hätten Angst vor einem sozialen Abstieg. Bei vielen habe sich "das Gefühl eingeschlichen, die Politik vergisst auf die Durchschnittsösterreicher".
In seiner Welser Rede kurz nach seinem Amtsantritt entschuldigte sich Kern noch bei jenen Enttäuschten, die in den letzten Jahren zur FPÖ abgewandert waren: "Es ist nicht eure Schuld, es ist unsere." Von der FPÖ Wähler zurückgewinnen, das sei ein wichtiges Ziel, sagte auch Bundesgeschäftsführer Georg Niedermühlbichler. Gleichzeitig setzt Kern voll auf die wachsende Zahl von Einzelunternehmer, auf Start-ups und das, was Experten das "mobile, neue Prekariat" nennen. Mittelschicht-Kampagne einerseits, sozial kämpferische Töne andererseits - kann das funktionieren?
Für den Soziologen Jörg Flecker steckt die SPÖ in einem Dilemma. Tatsächlich hätte die soziale Unsicherheit massiv zugenommen, das habe auch die SPÖ erkannt. Umstrukturierungen, Arbeitslosigkeit, steigender Arbeitsdruck und die Zunahme von prekärer Arbeit würden ein Unrechtsempfinden auslösen. Die populistische und extreme Rechte würde dieses in verzerrter Form aufgreifen und als scheinbare Lösung die Bevorzugung jener anbieten, die immer schon hier waren. "Die Diskussion über Industrie 4.0 und Digitalisierung gießt Öl ins Feuer. Man hört ständig, dass bald die Roboter die Arbeit erledigen werden. Aber niemand sagt der Bevölkerung, wie deren Erwerbsmöglichkeiten abzusichern sind." Die heißen Eisen der Verteilung von Produktivitätsgewinnen, also des Reichtums, und der Umverteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung, würden eher vermieden, sagt der Soziologe. Somit bliebe weiter Raum für die Sündenbock-Politik von Rechts.
Politische Herausforderung
"Mittelschicht, das hat mit Eigentum zu tun. Mit Jobs, die einen sozialen Polster bringen, der einen deutlich von der Armutsschwelle abhebt", sagt der Politikwissenschaftler Nikolaus Dimmel. Das Setzen auf die neuen Selbständigen müsste politisch aufgefangen werden. Vor allem das Wohnthema sei zentral - nur, wer Eigentum besitze, könne auch mit mäßigem Einkommen ansparen und aufsteigen.
Dort wartet thematisch schon die ÖVP. Genüsslich kostet deren Parteichef, Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, Kerns Dilemma aus und wirft der SPÖ "Klassenkampf" vor, wo sie gegen prekäre Jobs ankämpft und mit einer Wertschöpfungsabgabe auf den Strukturwandel in der Produktion reagieren will. Mitterlehner will in den nächsten Wochen eine Kampagne für leistbare Eigentumswohnungen starten. Mittlere und untere Schichten gleichzeitig abdecken - ohne Zweifel eine politische Herausforderung für Kern. Ob das, was er am 1. Mai sagen wird, mehr als sozialdemokratische Folklore ist, werden die kommenden Jahre zeigen.
Der politische 1. Mai
Die ÖVP hielt bereits am Freitag in Wien-Simmering ihre Matinee unter dem Motto "Wirtschaft und Arbeit neu denken" ab. Am Montag besucht Parteichef Mitterlehner in den Bundesländern Menschen, die am 1. Mai arbeiten.
Die FPÖ und ihre "John Otti Band" feiern den 1. Mai traditionsgemäß am Urfahraner Jahrmarkt in Linz.
Die Grünen verteilen an ihrem "Tag der Arbeitslosen" Frühstück vor den AMS-Zentren in Wien. Am Montag endet auch die Perspektivenkonferenz der jüngst geschassten Jungen Grünen.
Die Neos feiern den 1. Mai wieder als "Tag der Bildung". Parteichef Strolz wird das Sozialunternehmen Sindbad-Social-Business besuchen.