Erwünscht ist ein vom Einkommen unabhängiger Zugang. | Ziele: Hohe Qualität und eine langfristige Finanzierbarkeit. | Wien. 50 Jahre EU heißt auch 50 Jahre verschiedene Gesundheitssysteme innerhalb der Union. So wie in vielen anderen Bereichen, wo über eine gemeinsame EU-Politik nachgedacht wird, gibt es aber auch in der europäischen Gesundheitspolitik die Idee, irgendwann einmal ein gemeinsames EU-Gesundheitssystem zu entwickeln. Bis dato wurden in Brüssel dazu erst recht vage Vorgaben formuliert: Ein allgemeiner, vom Einkommen unabhängiger Zugang, eine hohe Qualität und eine langfristige Finanzierbarkeit - dies sind die drei Prämissen, welche die Europäische Kommission seit 2003 den Gesundheitssystemen in den EU-Ländern vorschreibt.
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#Praktisch jedes Land hat Finanzierungsprobleme
Vor allem die Grundbedingung jedes öffentlichen Systems, nämlich die langfristige Finanzierbarkeit, gewinnt europaweit zunehmende Bedeutung und macht nicht nur die Entwicklung eines gemeinsamen Systems sehr schwierig, sondern bringt schon jetzt die bestehenden nationalen Systeme an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Die mittlerweile recht gut bekannten Faktoren demografische Entwicklung und genuine, weil fortschrittsbedingte Teuerung der Medizin erschweren es immer mehr, im Gesundheitsbereich eine langfristige Finanzierung zu gewährleisten.
Finanzielle Probleme im öffentlichen Gesundheitssystem (GS) sind daher in praktisch allen europäischen Demokratien zu beobachten. Manche Länder Europas kommen aber mit den aktuellen kostensteigernden Tatsachen besser zurecht als beispielsweise Österreich. Erstens, weil es prinzipiell unterschiedliche Finanzierungsarten der GS gibt, die ein unterschiedliches ökonomisches Vorgehen ermöglichen, und zweitens, weil andere Staaten (vor allem die nördlichen EU-Länder) wesentlich offener und transparenter mit der Finanzproblematik umgehen und dieser objektivere Diskurs letztlich zur Lösung der Konflikte beiträgt. Da die Prämisse "Gleiche öffentliche Versorgung für alle" europaweit Gültigkeit hat, ist anzunehmen, dass die unterschiedliche Problemlösungskompetenz der europäischen Staaten durch die unterschiedliche Finanzierungsstruktur ihrer öffentlichen GS mitbegründet ist. Welche Systeme sind nun in Europa aktuell?
Beitragsfinanzierte GS entstammen anderer Zeit
Österreich ist wie Deutschland und mit Abstrichen auch Frankreich ein Land, in dem das System der Beitragsfinanzierung durch Erwerbstätige innerhalb öffentlicher, nicht gewinnorientierter und selbstverwalteter Körperschaften angewendet wird.
Die Idee dieser sogenannten Bismarckschen Systeme ist prinzipiell gut, sie datiert allerdings aus dem gesellschaftlich völlig anders zusammengesetzten 19. Jahrhundert. Die Zunahme der Pensionistenzahlen, die wachsende Lebenserwartung, steigende Arbeitslosenraten sowie die Zunahme des medizinischen Leistungsangebots verursachen im Beitragssystem bei der aktuell stagnierenden Menge der Beitragszahler logischerweise immer größere Defizite. Beitragssysteme können folglich nur durch Zuschüsse, ständige Beitragserhöhungen, steigende Selbstbehalte und letztlich Rationierungen weiter finanziert werden.
Dies läuft der Grundidee eines für seine Mitglieder als leistbar und funktionstüchtig konzipierten Systems zuwider. Grundsätzlich sind daher Länder mit Beitragssystemen dem größten Reformdruck ausgesetzt; diese Staaten müssen zukünftig völlig neue Wege der Finanzierung beschreiten. Neue Modelle dazu wurden vor allem in Deutschland angedacht, sind aber von der dortigen Koalitionsregierung vorläufig ad acta gelegt worden.
Steuerfinanzierte GS
haben Vorteile
Andere Länder (wie z.B. Finnland oder England) besitzen ein steuerfinanziertes GS, das über von der Regierung bereitgestellte Budgets gewährleistet wird. Zusätzlich gibt es in solchen Systemen durchaus auch spürbare Selbstbehalte (in Finnland z.B. in manchen Bereichen bis zu 50 Prozent). Bei allen bekannten Nachteilen, die staatliche Systeme prinzipiell mit sich bringen, haben diese im Gesundheitsbereich doch den Vorteil einer besseren und einheitlicheren Planbarkeit sowie kürzerer Reaktionszeiten auf die verschiedenen aktuellen Probleme. Vergleichsweise sind staatliche Gesundheitssysteme insgesamt auch deutlich billiger als Beitragssysteme. Last not least sind steuerlich finanzierte GS demokratiepolitisch betrachtet fairer als Beitragssysteme, da Beitragssysteme vor allem Partikularinteressen bedienen, steuerlich finanzierte GS hingegen dem gesamtstaatlichen Interesse untergeordnet sind. Unabhängige Institute - wie etwa das renommierte NICE-Institut* in England - kontrollieren in staatlichen GS die Qualität der medizinischen Versorgung.
Andere GS-Modelle: Ansätze in der Schweiz
Überwiegend marktwirtschaftlich gesteuerte GS sind in Europa aus kulturell-historischen Gründen nicht zu finden, es gibt jedoch GS, die durch marktwirtschaftliche Elemente gekennzeichnet sind - allerdings außerhalb der EU. Beispiel Schweiz: Dort existiert zwar ein verpflichtendes Sozialversicherungsmodell, die Kassen sind aber frei wählbar. Es gibt hohe Selbstbehalte für alle, und aus wirtschaftspolitischen Gründen wird auf Arbeitgeberbeiträge verzichtet.
Insgesamt ist das Schweizer GS vergleichsweise teuer. Durch Konkurrenz schaffende Konstellationen wie die freie Versicherungswahl werden aber Qualität und Effizienz automatisch gefördert, diese können wiederum in den billigeren staatlichen bzw. in den beitragsfinanzierten GS nur durch Zwang und Kontrolle garantiert werden.
Staatliche, steuerfinanzierte GS scheinen grundsätzlich die fairsten zu sein. Beitragssysteme sind nur dann fair, wenn die Beiträge für alle gleich sind und die Einkommensschwachen durch Steuertransfers subventioniert werden - was wiederum für ein steuerfinanziertes System spricht. Letztlich dürfte also ein (erst noch zu entwickelndes!) Mischsystem, bestehend aus Steuerfinanzierung und aus einer vom Arbeitsverhältnis unabhängigen Beitragsfinanzierung, allen Bedürfnissen und Anforderungen am ehesten gerecht werden. In Österreich existiert zwar vor allem im stationären Bereich eine steuerliche Mitfinanzierung des GS, diese ist aber vollkommen intransparent und durch föderalistische, oft kontraproduktive Interessen aufgesplittert und selbst für ausgewiesene Finanzexperten nicht nachvollziehbar.
<SEITENWECHSEL
Marktelemente erhöhen Effizienz und Qualität
Vergleicht man abschließend die wichtigsten Kennzeichen der europäischen Systeme, lassen sich jedenfalls folgende Erkenntnisse gewinnen: Gute Planbarkeit und transparente, langfristige Finanzierbarkeit des öffentlichen GS ist nur in einem überwiegend steuerfinanzierten System gewährleistet. Staatliche Kontrolle ist aber in solchen Systemen unausweichlich und aus Qualitätsgründen auch notwendig. Die klassischen Beitragssysteme haben sich zwar historisch bewährt, sind aber aus den erwähnten Gründen künftig kaum aufrechtzuerhalten und daher als Ganzes kollapsgefährdet. Außerdem ist die Fairness dieser Apparate an sich prinzipiell fragwürdig. Weiters ist im europäischen Gesamtbild zu beobachten, dass die Zulassung von Marktelementen im GS (wie Konkurrenz und Wahlfreiheit) jedenfalls Qualität und Effizienz fördern. Und schließlich ist festzuhalten, dass Selbstbehalte in allen Systemen weithin bewährte Steuerungs- und auch Finanzierungselemente darstellen.
* NICE-Institut: National Institute for Health and Clinical Excellence (www.nice.org.uk); unabhängig von Ärzten, Patienten und Industrie, erstellt ökonomisch günstige und für Patienten nützliche Guidelines und Behandlungsempfehlungen nach den Kriterien der evidence-based-medicine.
Dr. Marcus Franz ist Facharzt für Innere Medizin in Wien.