Ein Ende des Flüchtlingsansturms ist nicht abzusehen, das Problem muss in den Herkunftsländern gelöst werden.
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Blicken wir - abseits des alltäglichen Kampfes um Unterbringung der Asylsuchenden - den Fakten ins Auge. Die Mehrheit der Bevölkerungen in Europa steht dem Massenzustrom von Asylsuchenden und Wirtschaftsflüchtlingen ablehnend gegenüber. Da sind gut gemeinte Argumente nutzlos bis kontraproduktiv, wie der Vergleich mit der freundlichen Aufnahme der ungarischen Ankömmlinge im Jahr 1956, der Hinweis auf den (noch) niedrigen Anteil der Asylwerber und anerkannten Flüchtlinge an der EU-Bevölkerung von 500 Millionen, wie auch die dringende Bitte, nicht von "Zustrom", "Ansturm" oder gar "Tsunami" zu sprechen, sondern von den einzelnen leidenden Menschen mit Gesicht, die "an unsere Tür klopfen".
Diese Ablehnung hat viele Gründe. Der Flüchtlingsstrom stört uns in unserem teils beschaulichen, teils ohnehin schon gestressten Leben. Die Menschen kommen aus eher exotischen Ländern wie Irak, Syrien, Eritrea, Afghanistan, Nigeria, Kosovo, Mazedonien, Albanien, zu denen keine oder keine positiven emotionalen Beziehungen bestehen und deren Bewohner einander bekämpfen, was "eigentlich ihre Sache" sei. Dazu kommt der relativ hohe Anteil an Wirtschaftsflüchtlingen, die "uns die Arbeitsplätze wegnehmen".
Für die EU-Staaten und damit für die EU selbst, die ja mangels gemeinsamer Asylpolitik kaum Kompetenzen in der Flüchtlingsfrage hat (was ihr übrigens kurzfristig guttut), entwickelt sich die Flüchtlingsproblematik zu einer gefährlichen Zeitbombe. Immer mehr Staaten beginnen angesichts des Flüchtlingsansturms unter dem politischen Druck fremden- und meist auch europafeindlicher Parteien isoliert mit Abwehrmaßnahmen, wie hastigen Abschiebungen, Verletzung internationalen Rechts, Streichung von Geld- und Sachleistungen oder der Errichtung von Zäunen. Die Destabilisierung gewachsener innenpolitischer Strukturen schreitet rasch voran, Risse in der Gesellschaft brechen auf.
In dieser brandgefährlichen Lage für das europäische Einigungswerk muss die Politik Realitätssinn zeigen, europäisch agieren und Lösungsperspektiven anbieten. Realitätssinn bedeutet zu erkennen und zu kommunizieren, dass ein Ende des Flüchtlingsansturms nicht abzusehen ist und das Problem nur in den Herkunftsländern gelöst werden kann, idealerweise durch innere Befriedung, jedenfalls durch die Schaffung von Schutzzonen vor Ort für verfolgte Bevölkerungsgruppen. Kurzfristig ist EU-weit eine restriktivere Asylpraxis unvermeidlich.
Vor allem aber wird es eine gemeinsame europäische Außenpolitik geben müssen, um eine Strategie mit den wichtigen Playern, von den USA und Russland über die Türkei bis zu den Golfländern und dem Iran, zu entwickeln und umzusetzen. Das bedeutet aber auch - horribile dictu - die Bereitschaft der EU zu militärischem Engagement und zur Bereitstellung erheblicher Ressourcen für humanitäre Zwecke sowie den Wiederaufbau der Wirtschaften in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Das werden keine Freudenbotschaften für die skeptischen europäischen Bürger sein, aber Vertrauen bildende Zeugnisse von Leadership und Problemlösungskompetenz.