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Gesundheitsreform als Zankapfel

Von WZ-Korrespondent Markus Kauffmann

Europaarchiv
Die deutschen Parteien streiten über die richtige Arznei für das Gesundheitssystem, dem wegen der stetig wachsenden Kosten der Kollaps droht. Foto: bilderbox

Bald werden Grundsätze definiert. | Unter Zeitdruck: Deutsche Reform soll 2007 in Kraft treten. | Berlin. Welche Noten die Koalition aus Union und SPD bei der nächsten Bundestagswahl erhalten wird, hängt im Wesentlichen von drei Themen ab: Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze, Gesundheitskosten. Nirgends liegen die Partner so weit auseinander wie in der Gesundheitsreform. Doch bis zum Herbst soll ein gemeinsames Reformkonzept vorliegen, das gerecht, bezahlbar und wirtschaftlich vernünftig ist.


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"Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm" heißt es bei Brecht. Wer in Deutschland mehr als 47.250 Euro im Jahr verdient, wer Freiberufler oder Beamter ist, kann sich aussuchen, ob er freiwillig einer gesetzlichen Krankenkasse beitritt, ob er sich bei einer der zahllosen Privaten Gesellschaften versichert - oder gar nichts tut. Er unterliegt keiner Versicherungspflicht.

Von der "Gesundheitsreform" bleibt er unberührt - wenn es nach der Union geht. Denn ihrer Meinung nach ist die private Krankenversicherung (PKV) eine unverzichtbare Säule des Sozialstaates, die einen gewissen Mindest-Wettbewerb garantiert und den Versicherten ein hohes Maß an Wahlfreiheit gewährt.

Allerdings können sich die Privaten ihre Versicherten aussuchen, während die gesetzlichen Krankenkassen "jeden nehmen" müssen. Die Folge ist: Die große Masse der Durchschnitts- und Geringverdiener sind in der gesetzlichen, Besserverdiener meist in der privaten Versicherung.

Gutverdiener bei den privaten Krankenkassen

Beim Arzt oder im Krankenhaus wirkt sich das so aus: Der Privatpatient zahlt zunächst einmal alles selber und unmittelbar: Operationskosten, Krankenhausaufenthalt, Arzthonorare, Medikamente etc. Im zweiten Schritt legt er die Rechnung seinem Versicherungsinstitut vor und bekommt seine Auslagen zurückerstattet. Der "Kassenpatient" hingegen zahlt zunächst gar nichts, die Kosten übernimmt grundsätzlich die - gesetzliche - Kasse. (Seit 2003 sind allerdings 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal und zwischen 5 und 10 Euro für jedes Medikament fällig.) Für Ärzte und Spitäler bedeutet dies einen erhöhten Schreib- und Bürokratieaufwand, längeres Warten auf ihr Geld und dann meist noch niedrigere Sätze.

Schon im Wartezimmer haben Privatversicherte daher oft Sonderkonditionen und werden gern "dazwischengeschoben". Auch wie schnell man einen Facharzt-Termin bekommt, hängt nicht selten vom Versicherungsstatus ab. Kein Wunder, dass manche von einer "Zwei-Klassen-Medizin" sprechen.

Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel räumt ein, dass es "solche Tendenzen" gebe, versichert aber gleichzeitig, dass die Bundesregierung diese verhindern werde.

Wenn es nach der Linken ginge, wären die Tage der PKV, der Privaten Krankenversicherung, ohnehin gezählt. Doch die setzt sich zur Wehr, mit schlagenden Argumenten. Ihr Verbandsdirektor Volker Leienbach erklärt, dass die "Privatpatienten das Gesundheitswesen stützen". Jährlich 8,5 Milliarden Euro mehr Umsatz allein dadurch, dass Privatpatienten mehr bezahlen als die gesetzliche Krankenversicherung für ihre Versicherten. "Damit leisten Privatversicherte einen hohen Solidarbeitrag." Ohne die Privaten sei der qualitativ hochwertige Versorgungsstandard des deutschen Gesundheitswesens kaum aufrecht zu erhalten.

"Niemand in der Bundesregierung denkt daran, die private Krankenversicherung abzuschaffen", sagte in dieser Woche eine Sprecherin der Gesundheitsministerin. Die Wortwahl erinnert fatal an Walter Ulbricht, zwei Monate vor dem Mauerbau: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen . . ." Doch dies ist nur einer der Knackpunkte, um die es in der gegenwärtigen Phase der Gesundheitsreform geht.

Zwischen Skylla und Charybdis

Die Skylla heißt "Medizinkosten", die Charybdis "Lohnnebenkosten". Deutschland steht bei den Gesundheitskosten an zweiter Stelle der Weltrangliste, bei der durchschnittlichen Lebenserwartung jedoch nur im Mittelfeld. Wie der "Stern" einmal formulierte: Man verkaufe dem deutschen Patienten einen Golf für den Preis eines Mercedes. Doch liegt dies auch an der Bevölkerungsstruktur: Die Deutschen werden immer älter. Ebenso nimmt die Zahl chronischer Krankheiten zu. Arzneimittel werden leistungsfähiger, aber auch teurer. Diagnosen und Therapien setzen auf immer kostspieligere Apparate.

Gleichzeitig werden die Arbeitsplätze teurer, weil die Beteiligung der Arbeitgeber die Lohnkosten nach oben treibt. Seit den 70er-Jahren stiegen die Beiträge zur Krankenversicherung um mehr als 70 Prozent. Eine Senkung der Beiträge könnte also mehr Jobs bringen - doch wie soll das bei den Kostensteigerungen gehen?

"Das deutsche Gesundheitssystem steuert auf den Kollaps zu", warnt der Mannheimer Wirtschaftsprofessor Wolfgang Franz. Nicht zuletzt wegen der im System eingebauten "Über-, Unter- und Fehlversorgungen".

Beispiel Herzkatheter: In Deutschland wird diese Untersuchung doppelt so oft wie im europäischen Durchschnitt gemacht, trotzdem sterben 25 Prozent mehr am Herzinfarkt. Beispiel Diabetes: Bei einer konsequenteren Betreuung der Zuckerkranken wären 20.000 Fußamputationen und 30.000 Schlaganfälle vermeidbar. Der Berliner Gesundheitsökonom Rolf Rosenbrock vermutet: "Ein Viertel der teuren Krankheitsfälle ließe sich glatt verhüten."

Kopfpauschale versus Bürgerversicherung

Im Ziel einig, im Weg zerstritten. So könnte man die Ausgangspositionen der Koalitionspartner beschreiben. Das Ziel: Jeder Versicherte muss auch in Zukunft eine gute, am medizinisch Notwendigen orientierte Versorgung bekommen, unabhängig von seiner persönlichen finanziellen Situation. Das will die Union durch eine Gesundheitsprämie erreichen, bei der alle gesetzlich Versicherten einen einheitlichen Pauschalbetrag ("Kopfpauschale") zahlen sollen, derzeit 169 Euro. Sozial Schwache erhalten einen Ausgleich aus Steuermitteln. Privatversicherte, Beamte und Selbstständige werden - wie bisher - nicht in die Pflicht genommen. Der große Vorteil dieses Systems bestünde in der Abkoppelung der Krankenversicherung von den Lohnnebenkosten.

Ganz anders die Vorstellungen der SPD: Sie plädiert für eine "Bürgerversicherung". Derzeit sind nur rund 72 der etwa 82 Millionen Deutschen bei den gesetzlichen Kassen. Bei der "Bürgerversicherung" müssen alle Versicherten, einschließlich Beamte und Selbstständige, entsprechend ihrer individuellen Leistungsfähigkeit einen prozentual gleichen Beitrag ihres Einkommens zahlen. Die paritätische Lastenteilung - jeweils zur Hälfte durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber - soll beibehalten werden. Die Versicherungspflichtgrenze entfällt.

Zudem will Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die Trennung zwischen gesetzlichen und privaten Kassen auflösen - zwar keine formelle "Abschaffung", aber ihre Attraktivität gegenüber der gesetzlichen würde praktisch auf Null reduziert.

Kompromissvorschläge dringend gesucht

Einen "dritten Weg" schlug jüngst CDU-Generalsekretär Volker Kauder vor, wurde aber von allen Seiten zurückgepfiffen. Er hatte von einem durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge gespeisten Gesundheitsfonds sowie die Einführung eines "Gesundheitssoli" (=Solidaritätsbeitrag) gesprochen. So unvereinbar die Modelle von SPD und CDU erscheinen, so gibt es doch Vorschläge, das Beste aus beiden zu kombinieren. Sie stammen von niemand Geringerem als dem Rat der fünf Wirtschaftsweisen. Dafür müssten Union und SPD über ihren Schatten springen, meint der Wissenschaftler Wolfgang Wiegard. "Die Gesundheitskosten würden von den Arbeitskosten abgekoppelt. Das ist wichtig angesichts der demographischen Entwicklung und des medizinisch-technischen Fortschritts." Kleiner, aber fataler Haken: Um die von den Weisen vorgeschlagene Bürgerpauschale zu finanzieren, müssten Steuern erhöht werden.

Eckpfeiler sollen bis zum Sommer stehen

Unbeschadet der Meinungsdifferenzen hat sich die große Koalition auf einen Zeitplan für die Gesundheitsreform verständigt: Eine Koalitionsrunde soll am 1. Mai Grundsätze erstellen, die bis zur Sommerpause zu einem Eckpunktepapier erweitert werden könnten. Das Gesundheitsministerium bekommt danach den Auftrag, über die Sommerpause das Gesetz auszuarbeiten, damit es rechtzeitig im September in den Bundestag zur Beratung eingebracht wird. Danach soll der Bundestag das Projekt im Oktober verabschieden. Dann könnte der Bundesrat sein Votum im November abgeben und das Gesetz im selben Monat veröffentlicht werden. Es bliebe den Betroffenen gerade genug Zeit, sich auf das Inkrafttreten am 1. Jänner 2007 vorzubereiten.

Ministerin im Kreuzfeuer