Der im November 2004 veröffentlichte Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) "Priority Medicines for Europe and the World" zeigt wesentliche Lücken im Gesundheitssystem auf. Zentrale Forderung der WHO: Die forschende Pharmaindustrie müsse darin bestärkt werden, in die Entwicklung innovativer Medikamente zu investieren, die sich den für die Zukunft wichtigen Problembereichen annehmen. Wenige Tage später drohte Jean-Francois Deheq, Chef des neuen europäischen Pharmagiganten Sanofi-Aventis, unter Hinweis auf die dortige Gesundheitspolitik mit Stellenstreichungen in Deutschland: "Wir werden langfristig nicht in einem Land investieren, in dem wir kein Geld verdienen." - Derart weit klafft die Schere mittlerweile zwischen Notwendigkeit und Finanzierung. Gibt es einen Ausweg aus der gesundheitsökonomischen Falle?
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Derzeit basiert pharmazeutische Forschung und Entwicklung auf einem marktorientierten Anreizsystem, das sich in erster Linie auf Patente und geschützte Preise als Hauptfinanzierungsmechanismus stützt. Das ergibt sich schon aus den enormen Entwicklungskosten, denen zunehmend der Generika-Sparstift gegenüber steht. Als Konsequenz davon bleibt eine Reihe wichtiger medizinischer Bedürfnisse unberücksichtigt.
Die dringlichsten Problemfelder skizziert der WHO-Bericht wie folgt: Die alternde Bevölkerungsstruktur in Europa, die zunehmende Belastung durch nicht ansteckende Krankheiten in den Entwicklungsländern sowie Krankheiten, die trotz der Verfügbarkeit von wirkungsvollen Behandlungsmethoden hartnäckig fort bestehen. Weitere Schwerpunkte bilden bestimmte Bevölkerungsgruppen wie z. B. Kinder, Frauen und ältere Menschen, die in der pharmazeutischen Forschung in der Vergangenheit häufig vernachlässigt wurden. Auch eine Liste mit den am dringendsten gebrauchten Medikamenten für Europa und den Rest der Welt liegt dem Bericht bei.
Als Vertreter der forschenden pharmazeutischen Industrie nahm Andrew Witty, Präsident von GlaxoSmithKline (GKS) Europe, an der Vorstellung des WHO-Berichtes in Den Haag teil: "Wir begrüßen diesen Bericht. Die europäische Gesundheitsversorgung bringt eine Vielzahl von Herausforderungen mit sich und der Report liefert eine Reihe von Diskussionspunkten und Lösungsansätzen. Wesentlich ist die Erkenntnis, dass unzureichende Behandlungsmöglichkeiten stets die Folge des Zusammenspiels einer Vielzahl von Faktoren sind: wissenschaftliche Komplexität, medizinischer Bedarf, verfügbare Ressourcen, die Anforderungen des Marktes etc."
Forschungsagenda
In Österreich nahm GSK-Geschäftsführer Eduardo Pinto-Leite ebenfalls dazu Stellung: "Viele in diesem Bericht hervorgehobene europäische Herausforderungen haben natürlich auch in Österreich ihre Entsprechung. Wir kooperieren mit allen an dieser Thematik Beteiligten, um effektive und langfristige Wege und Lösungen für Themen des Gesundheitssystems zu finden. Wir brauchen einen langfristigen und strategischen Zugang, um die Verfügbarkeit innovativer Medikamente für die österreichischen Patienten zu sichern."
Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Anstrengungen zur Verkürzung des Medikamentenentwicklungsprozesses entscheidend zur Förderung von pharmazeutischer Innovation beitragen würden. Mögliche Beispiele wären die Unterstützung einer Forschungsagenda durch die EU-Kommission und nationale Behörden zur Entwicklung von Methoden klinischer Leistungsbelohnung sowie die Koppelung von Preisen an das nationale Einkommensniveau. Dies könnte Investitionen der Industrie in die Entwicklung innovativer Medikamente fördern und sich intensiv auf Forschungsinnovationen und -politik auswirken.
Dagegen steht indessen eine Gesundheitspolitik der Einsparungen, die nicht nur Generika forciert, sondern auch plant, die Preise für innovative Arzneimittel an diese Nachahmerpräparate zu koppeln. Sanofi-Aventis-Chef Dehecq warnt denn auch: "Dann wandert die Forschung ab und letztendlich wird auch die Produktion verlagert."
Möglichkeiten nutzen
Einen neuen Denkansatz in diesem Dilemma liefert Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer in seinem neuen Buch "Gesundheitswirtschaft. Die Zukunft für Deutschland" (ABW Wissenschaftsverlag Berlin). Darin plädiert er dafür, die Potenziale zu erkennen, die in der Gesundheitswirtschaft liegen. Es gelte, die positiven Möglichkeiten in den assoziierten Branchen der Medizin zu nutzen, angefangen von der Medizintechnik über Pharmazie, Telematik bis hin zu Fitness, Wellness und Naturheilkunde: "Das Gesundheitswesen selbst, die medizinische Versorgung, ist nur ein Teilbereich dieses umfassenderen Feldes der Gesundheitswirtschaft", meint er.
Grönemeyer, Inhaber des Lehrstuhls für Radiologie und Mikrotherapie an der Universität Witten/Herdecke, ist seit Jahren engagierter Verfechter einer Gesundheitsreform, die den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt, die darüber hinaus aber den Blick weg von den Kosten hin zum gesamtgesellschaftlichen Nutzen richten will. "Das Problem ist nicht die sogenannte Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Diese gibt es ja gar nicht, denn die Gesundheitsausgaben sind seit Jahren in etwa konstant. Das Problem sind die Defizite durch mangelnde Einzahlungen aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit. Genau deshalb geht es vordringlich um die Schaffung neuer Arbeitsplätze - und die liegen in besonderer Weise in der Gesundheitswirtschaft", betont Dietrich Grönemeyer.
Kostenoptimierung
Darüber hinaus gebe es im Gesundheitswesen erhebliche Möglichkeiten zur Kostenoptimierung, die ausgelotet werden können, " etwa durch den Einsatz innovativer Medizin, durch ambulante Methoden, durch die Vermeidung durch Doppeluntersuchungen oder die Verbindung von HighTech-Medizin und Naturheilkunde."
Besonderes Augenmerk legt Grönemeyer auch auf eine verbesserte betriebliche Gesundheitsförderung, die durch Ausnutzen ambulanter Therapieverfahren und gute Präventionsprogramme für die Arbeitnehmer dazu beitragen würde, die Krankenstände und damit die Produktionsausfallkosten bzw. Lohnnebenkosten zu senken.