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Gewählt und abgestraft

Von Anja Stegmaier

Politik

Die Wahl von Andrea Nahles zur neuen Parteichefin wirft ein Schlaglicht auf die Zerrissenheit der SPD.


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Wiesbaden/Berlin. 66,35 Prozent. Bei der Verkündung des Wahlergebnisses beim Bundesparteitag der SPD in Wiesbaden am Sonntag klatschen die Genossen - das Lächeln der Siegerin Andrea Nahles friert jedoch ein.

Zwar ging die bislang Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag als neue und erste Vorsitzende der Partei aus der Wahl hervor - das Ergebnis, das das Zweitschlechteste der Nachkriegsgeschichte ist, bedeutet für die Politikerin jedoch gleichzeitig ein direktes Abstrafen vieler ihrer Genossinnen und Genossen.

Denn die einzige Gegenkandidatin, Simone Lange, Oberbürgermeisterin von Flensburg, hat eine schlechte Rede gehalten. In etwa 15 Minuten wurde die bundespolitisch unerfahrene Sozialdemokratin inhaltlich nicht konkret. Umso überraschender für viele Beobachter, dass die Herausfordererin ganze 27,5 Prozent der Stimmen vereinen konnte, ein skeptisches Drittel.

Ein Zeichen für die Unzufriedenheit der Basis mit der Führung über die vergangenen Wochen und Monate. Und ein Zeichen für die Unsicherheit über den weiteren Kurs der ältesten Partei Deutschlands, die auf ihr historisches Tief von 20,5 Prozent bei den Wahlen im September im vergangenen Jahr abgesackt und auf 18 Prozent in den neuesten Umfragen abgestürzt ist. Auch im Jänner hatten die Delegierten mit nur 56 Prozent Gespräche mit der Union über die Bildung einer neuen Koalition gebilligt, und zwar nachdem Nahles genau dafür eingetreten war.

Großes Misstrauen

Die Hauptaufgabe der neuen Frau an der Spitze ist es nun, das Vertrauen der Parteibasis und der SPD-Wähler zurückzugewinnen. Und den Kurs für die bereits lang beschworene Erneuerung der Partei vorzugeben. Das politische Programm der Sozialdemokraten muss neu definiert werden, und das in einer Zeit, in der sich in ganz Europa die Sozialdemokratie in einer historischen Krise befindet und populistische, fremdenfeindliche und euroskeptische Gruppen auf dem Vormarsch befinden. Nahles muss, will sie einen Ausweg aus dieser für die SPD missliche Lage finden, vor allem Führungskompetenz unter Beweis stellen.

Sechs Wochen nach dem Eintritt in die neue Bundesregierung sehen die Kritiker der großen Koalition aber nach wie vor die Gefahr, dass die SPD als Regierungspartnerin von Merkel einerseits staatspolitische Verantwortung übernehmen - und andererseits den linken Diskurs erneuern muss, damit die Partei bei den Wählern wieder für etwas steht. "Wir packen das - das ist mein Versprechen", sagte Nahles in ihrer kämpferischen Rede. Das am Ende des Parteitags gesungene Arbeiterlied "Wir schreiten Seit’ an Seit’", klang da aber mehr als Beschwörung von Einheit als Zeugnis derselben.

Das scheint der neuen Vorsitzenden auch der Rest der Bevölkerung nicht zuzutrauen. Laut Umfrage würden nur 13 Prozent für Nahles als Kanzlerin stimmen, könnten sie die Regierungschefin direkt wählen, wie aus dem am Montag veröffentlichten RTL/
n-tv-Trendbarometer hervorgeht. 39 Prozent der Befragten halten sie laut der forsa-Erhebung für geeignet, die SPD zu führen, 38 Prozent trauen ihr zu, die Partei zu erneuern. Im Politiker-Ranking liegt Nahles im April auf Platz 15 mit unverändert 40 Punkten. Am meisten Vertrauen haben die Befragten in Bundeskanzlerin Angela Merkel, gefolgt von Grünen-Chef Robert Habeck.