)
Von vielen Palästinensern wurde der Montag durch einen gezielten israelischen Raketenangriff liquidierte spirituelle Führer der radikal-islamischen Palästinenserorganisation Hamas wie ein Heiliger verehrt. Die Israelis sahen den nahezu blinden, an den Rollstuhl gefesselten Vater von elf Kindern, dessen Organisation hinter zahlreichen blutigen Anschlägen stand, als "Erzmörder" und "palästinensischen Bin Laden".
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der nach verschiedenen Angaben 1936 oder 1937 - er selbst gab 1938 als Geburtsjahr an - in einem Fischerdorf bei Aschkalon als Sohn eines lokalen Würdenträgers im Süden Israels geborene Yassin floh 1948 nach der Zerstörung seines Heimatdorfes in den Gaza-Streifen. 1952 erlitt er beim Tauchen einen schweren Unfall, der ihn für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl fesselte. Er studierte in Kairo Sprachen und islamische Religion und schloss sich dort der verbotenen Moslembrüderschaft an, was ihm eine erste 45-tägige Haftstrafe einbrachte. Nach dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 machte er sich für die Stärkung der Moslembrüderschaft im Gaza-Streifen stark und gründete 1973 ein Islamisches Zentrum zur Koordinierung sozialer Programme. Israel ließ ihn gewähren, in der Erwartung, dass es sich zu einem Gegenpol zur PLO entwickeln könnte und tatsächlich beschlossen Yassin und seine Anhänger erst 1984, sich am Kampf gegen Israel zu beteiligen. Yassin wurde daraufhin festgenommen und zu einer 13-jährigen Haftsstrafe verurteilt, kam aber bereits ein Jahr später bei einem Gefangenenaustausch frei. 1987 gründete er beim Ausbruch der ersten Intifada die Kampforganisation Hamas, deren Name "Eifer" oder "Hingabe" bedeutet.
Als Yassin 1989 zur Ermordung von Palästinensern aufrief, die mit der israelischen Besatzungsarmee kollaborierten, wurde er mit 200 Anhängern neuerlich verhaftet und wegen der Entführung und Ermordung von zwei israelischen Soldaten zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach einem fehlgeschlagenen Mordanschlag des israelischen Geheimdienstes Mossad auf den Palästinenserführer Khaled Mashal in Jordanien, kam Yassin auf explizite Forderung aus Amman hin im Austausch gegen die zwei Mossad-Agenten neuerlich frei. Israel hatte befürchtet, der schwer kranke Hamas-Chef könnte im Gefängnis sterben und so zum Märtyrer werden.
Yassin kehrte im Triumph nach Gaza heim, wo er seine Rolle als spiritueller Hamas-Führer sofort wieder aufnahm und zum Widerstand gegen die israelische Besatzung auch mit Selbstmordanschlägen aufrief. Von der Palästinenserführung wiederholt unter Hausarrest gestellt, wurde er aber nach heftigen Protesten seiner Anhänger ebenso oft wieder freigelassen. Am 13. Juni 2003 kündigte Israel an, dass Yassin nicht mehr immun sei und auf der Liste jener Personen stehe, die es zu liquidieren gelte. Am 6. September des Vorjahres warf die israelische Luftwaffe eine 250-Kilo-Bombe auf ein Gebäude in Gaza, in dem sich die Hamas-Führung versammelt hatte. Yassin kam mit leichten Verletzungen an der Hand davon und schwor, dass die Hamas den Israelis eine "unvergessliche Lektion für diesen Angriff erteilen würden. Zuvor hatte der israelische Ministerpräsident Ariel Sharon angekündigt, dass Israel alle radikalen Palästinenserführer töten werde. Am 30. Jänner dieses Jahres drohte Yassin mit der Entführung israelischer Soldaten, um die Freilassung palästinensischer Gefangener zu erpressen.
Als Yassin Montag früh die Moschee verließ, wurde er durch einen von einem israelischen Kampfhubschrauber abgefeuerte Rakete getötet. Mit ihm starben acht Begleiter.