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Gewerkschaft muss sich Wandel stellen

Von Emmerich Talos

Politik

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Ungeachtet dessen, dass der ÖGB nach wie vor ohne Konkurrenz ist und die maßgebliche Interessenvertretung unselbständig Erwerbstätiger darstellt: Die Gewerkschaften sind heute mit einem einschneidend veränderten ökonomischen, sozialen und politischen Umfeld konfrontiert. Ihre Gestaltungsmacht ist eingeschränkt, die Zukunftsfrage virulent.

Aus der verstärkten Internationalisierung der österreichischen Wirtschaft resultiert ein steigender Standort-Wettbewerbsdruck und zugleich eine Begrenzung des Handlungsspielraums von Gewerkschaften. Der Erwerbsarbeitsmarkt unterliegt einem beträchtlichen Wandel, ablesbar an der Verbreitung von Erwerbslosigkeit und sogenannter "atypischer" Beschäftigung. Erstere liegt in Österreich auf einem innerhalb der EU zwar vergleichsweise niedrigeren, laut jüngsten Daten allerdings für österreichische Verhältnisse beträchtlich hohem Niveau.

Obwohl zur Zeit nach wie vor das vollzeitige und kontinuierliche "Normalarbeitsverhältnis" dominiert, spielen davon abweichende Beschäftigungsformen eine immer größere Rolle: Teilzeit, befristete und geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit, Werkvertragsarbeit, freie DienstnehmerInnen. Die Zahl atypisch Beschäftigter nimmt zu - mit nicht unbeträchtlichen Konsequenzen für diese: weniger und diskontinuierliches Einkommen, höheres Risiko der Erwerbslosigkeit, schlechtere soziale Absicherung, schlechtere Chancen auf Qualifikation. Stärker davon betroffen sind Frauen und MigrantInnen. Die Heterogenität am Erwerbsarbeitsmarkt nimmt zu. Unter diesen Bedingungen wäre ein ausschließliches Festklammern am "Normalarbeitsverhältnis" ebenso wie die Aufrechterhaltung von arbeits- und sozialrechtlichen Unterschieden zwischen Erwerbstätigengruppen gesellschaftspolitisch schlicht verfehlt.

Aktuell politisch dominierende Präferenzen mit ihrem Fokus auf Abbau des Sozialstaates, Flexibilisierung und Individualisierung differieren wesentlich vom gewerkschaftlichen Selbstverständnis. Die ÖVP-FPÖ-Regierung hat sich von den Eckpunkten sozialpartnerschaftlicher Interessenpolitik verabschiedet und den traditionell großen Einfluss der Gewerkschaften auf Sozial- und Wirtschaftspolitik weitgehend beseitigt.

Aus diesen Kontextbedingungen erwachsen den Gewerkschaften Herausforderungen in mehrfacher Hinsicht: Sie werden mehr als bisher Problemlagen und Interessen atypisch Beschäftigter, von Frauen und MigrantInnen zu berücksichtigen haben. Sie werden sich in diesem Zusammenhang intensiver mit Fragen der Grundsicherung befassen müssen. Angesichts des Standort-Wettbewerbsdrucks wird das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten spannungsreicher, der Betriebspartikularismus wird den Gewerkschaften mehr zu schaffen machen. Waren bisher die sozialpolitischen Anliegen der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder weitgehend im Rahmen der Sozialpolitik-Gesetzgebung wahrgenommen worden, so wird angesichts der äußerst restriktiven Regierungspolitik der Frage der sozialpolitischen Gestaltung durch Kollektivverträge zukünftig wachsende Bedeutung zukommen.

Ungeachtet der Tatsache, dass auch jüngste Meinungsumfragen noch die hohe Akzeptanz der Sozialpartnerschaft belegen: Nicht nur deren Blütezeit ist längst vorbei. Die tradierte Sozialpartnerschaft ist tot. Damit ist zwar nicht auch schon jegliche Form der Zusammenarbeit zu Ende. Konfliktorische Interessenpolitik wird allerdings in Zukunft ungleich mehr erfordert, der Streik nicht mehr das allerletzte Mittel gewerkschaftlicher Strategien sein.

Heute stellt sich nicht die Frage, ob die Gewerkschaften eine Zukunft haben - auch eine schlechte Zukunft wäre eine. Es geht vielmehr darum, welche Zukunft sie haben. Dies wird meines Erachtens wesentlich davon abhängen, wie Gewerkschaften mit den genannten Herausforderungen umgehen.

Emmerich Talos ist Universitätsprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.