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Gewinnen müssen, weil Verlieren verboten ist

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Kompromisse sind die große Stärke der EU. Im Krieg gegen Russland sind plötzlich andere Fähigkeiten gefragt.


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Am Karfreitag dankte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seinen Landsleuten für 50 Tage Widerstand: "Gott sei Dank, den Streitkräften der Ukraine und unserem Volk - wir haben den größten Teil unseres Landes verteidigt." Tatsächlich lassen sich der Mut und die Entschlossenheit, mit denen die Ukraine dem überlegenen russischen Aggressor mithilfe westlicher Militärhilfe entgegentritt, nicht hoch genug einschätzen. Zugleich wird deutlich, dass die Rückkehr des Krieges nach Europa dabei ist, zum Teil einer erneut neuen Normalität zu werden (vermag sich noch jemand an die alte Normalität zu erinnern?).

Anders als man vermuten könnte, steigt dieses Mal mit der Dauer des Kriegs nicht der Protest gegen, sondern die Gewöhnung an denselben. Statt Aufrufen zu Friedens- und Ostermärschen, wie zu den Hochzeiten des Kalten Kriegs, greift jetzt die Überzeugung, dass dieser Krieg von der und für die Ukraine gewonnen werden muss, Russland ihn jedenfalls nicht gewinnen darf, wenn eine Friedenslösung Chancen auf Bestand haben soll.

Gewinnen wollen, gewinnen müssen: Das sind nicht die Kategorien, in denen die EU, die in Wirklichkeit eine riesige Kompromissfindungsmaschinerie ist, denkt und handelt. Und dann heißt der Gegner auch noch die atomare Großmacht Russland. Und die EU verfügt mit all ihren Koordinationsnotwendigkeiten und Vetomöglichkeiten nicht über die Strukturen für eine solche kategorische Entschlossenheit. Doch Putins Angriff hat erneut eine moralische Grenze durch Europa gezogen, die es jedenfalls in den Augen der Friedensbewegten in den 1970ern und 1980ern, als die vergreiste Sowjetunion noch existierte, so nicht mehr gab. Das Risiko des Einsatzes taktischer Nuklearwaffen scheint, nimmt man die öffentliche Debatte zum Maßstab, heute keinem den Schlaf zu rauben.

Auch diese Grundgelassenheit ist untypisch. Ob sie auch in der Sache gerechtfertigt ist, muss sich erst weisen. Wiederholte Drohungen Moskaus, die Bereitschaft, Kiew mit immer offensiveren Waffen auszustatten, militärische Überraschungserfolge wie die Versenkung des russischen Raketenkreuzers "Moskwa" sollten zumindest als Hinweis für die Gefahr einer solchen Eskalation nicht weggewischt werden. Wer gewinnen will, weil er überzeugt ist, nicht verlieren zu dürfen, muss sich auf alle Optionen vorbereiten. Auch darauf ist niemand in der EU vorbereitet.