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Gewinner und Verlierer des Ukraine-Krieges

Von Kurt Baier

Gastkommentare
Kurt Baier ist Energietechniker und Unternehmer. Sein Berufsweg ging von Wasserkraftwerken über Sonnenkollektoren, Geothermie und Fernwärmenetze bis zu Biomassekesseln.
© privat

Eine Trennung des europäischen Wirtschaftsraums von Russland schadet beiden Seiten und nutzt den USA und China.


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Nicht Wladimir Putin, nein, die Deutschen haben uns auf Zuruf aus den USA den Gashahn abgedreht. Mit den Sanktionen gegen Russland tritt zu Tage, wie eng die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa zwischen der EU und Russland geworden ist. Wir bekommen aus Russland Rohstoffe, Gas, Öl, Kohle, Holz, Stahlbleche und auch Stahlguss, Edelmetalle für elektrische Bauteile und Katalysatoren und bezahlen mit Industrieausrüstung und Luxusprodukten. Diese in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaute friedliche und erfolgreiche Zusammenarbeit wird jetzt mit dem Krieg in der Ukraine zum Scherbenhaufen. Welcher Elefant tobt in unserem Porzellanladen? Hierzu ist die in der Kriminalistik sowie in der Geschichtswissenschaft zum Handwerkzeug gewordene Frage "Cui bono?" (Wer hat den Vorteil?) zu stellen.

Auch wenn unser Wohlstand bei weiten noch nicht in aller Welt angekommen ist, er wird von zwei Säulen getragen: von den genutzten Produktivkräften und vom weltweiten Warenaustausch. Wie sind die Produktivkräfte zwischen den großen Machtblöcken verteilt? Die einst führende Weltmacht USA verliert in den Bereichen Produktion und High Tech zunehmend gegenüber Europa. Nur in der Computertechnik führen sie heute noch. Es kommt nicht von ungefähr, dass Elon Musk mangels qualifizierter Zulieferer in den USA eine vertikale Produktion (Fertigung im eigenen Haus) entwickelt und jetzt seine dritte Tesla-Fabrik in Deutschland errichtet hat, um an der europäischen Produktionstechnik zu partizipieren.

Da die USA immer bemüht waren, weltweit die billigsten Arbeitskräfte zu nutzen, entstanden in den Bereichen Elektronik, Fertigungstechnik, Maschinen- und Schiffsbau führende Kompetenzzentren in Japan, Korea und Taiwan. Diese Länder sind von den Großmächten umworben, konnten sich aber bisher außerhalb der großen Machtblöcke behaupten.

Eine wirtschaftlich optimale Symbiose mit Russland

Europa ist im Bereich High Tech nach wie vor führend. So produziert auch China mit europäischer Industrieautomatisierung und Fertigungstechnik Photovoltaikmodule, elektrische Bauteile, chemische Produkte und Ähnliches. Zwischen Russland und der EU hat sich eine wirtschaftlich optimale Symbiose entwickelt. Siemens zum Beispiel modernisiert die Transsibirische Eisenbahn zu den russischen Rohstoffzentren. Wenn sich jetzt China bemüht, an diesen europäischen Wirtschaftsraum anzukoppeln, wird es für die USA eng.

Sehr vereinfacht dargestellt sind die US-Präsidenten George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden auf der einen Seite sowie der russische Präsident Putin auf der anderen nur Schauspieler an der Spitze von Herrschaftsapparaten, die sich jeweils in friedliche Tauben und gewaltbereite Falken teilen. Während die russischen Tauben die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU ausbauen, haben die Falken mit der Förderung rechter Politiker die Destabilisierung Europas zum Ziel. Die US-Falken wiederum arbeiten seit dem Mauerfall konsequent daran, Russland zu entmachten. Als Hebel dient die Ukraine, die einerseits die Kornkammer Russlands ist und andererseits die Schwerverkehrsverbindung Russlands zur Welt. Innerhalb Russlands sind die Wirtschaftsräume über die Transsibirische Eisenbahn sowie über die Wolga, den Don und die Häfen auf der Krim mit der Welt verbunden.

Eine Bremse für die Energiewende in Europa

Die US-Falken überließen die Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Armenien, Moldau, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Tschetschenien, Turkmenistan, Usbekistan und Georgien sich selbst beziehungsweise der Russischen Föderation. In der Ukraine hingegen unterstützen sie Politiker medial und finanziell, über die Oligarchen wurde die wirtschaftliche Bindung zu den USA ausgebaut und mit Subventionen aus Übersee die ukrainische Armee aufgerüstet. Russland hielt mit der Besetzung der Krim entgegen. Die Welt war empört. Die US-Falken hatten damit ihren Weg gefunden, den sie, als der Abtritt der Russland-freundlichen Europäerin Angela Merkel in Deutschland sicher war, forcierten. Sie verhinderten die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 und ermunterten den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die Aufnahme seines Landes in die Nato zu fordern. Damit war das Pulverfass gezündet. Die russischen Falken reagierten mit militärischer und die Falken der EU mit wirtschaftlicher Gewalt.

Sehr schnell profitierten US-Konzerne von steigenden Energie-, Rohstoff- und Agrarpreisen. Den USA wird es möglich, in der Konkurrenz um die Weltmacht ein wirtschaftliches Bündnis Russlands mit der EU auszuschalten. Ganz nebenbei wurde der in den USA ungeliebten Energiewende die finanzielle Basis entzogen. Ohne billiges russisches Gas aus Pipelines wird für die europäischen Energiekonzerne der Umstieg zu alternativen Energien finanziell ausgebremst. Springen die Staatskassen ein, wird das Geld in anderen Bereichen fehlen. Es ist offensichtlich, wer den Nutzen aus der Ukraine-Krieg hat.

Warum wird dies nicht erkannt? Mit dem Internet ist Information "gratis" geworden. Alle großen Qualitätsmedien mussten infolge sinkender Einkünfte ihre journalistische Mannschaft verkleinern und die Informationsbeschaffung auslagern. Dies nutzen die Amerikaner für eine neue Form der Kriegsführung mit Kommunikation als Waffe. Die Nachrichtenagentur Reuters wurde zur weltweiten Informationsplattform ausgebaut, von der alle Journalisten abschreiben können. Bestürzend ist, wie jetzt die Amerikaner, ohne einen eigenen Tropfen Blut zu riskieren, mit dieser Kommunikationspolitik Russen und Ukrainer gegeneinander in einen Krieg gehetzt und es geschafft haben, die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa zu stören.

Frieden suchen und von den USA loslösen

Die EU reagierte mit Wirtschaftssanktionen und möchte über Nacht autark und unabhängig von Russland werden. Abgesehen davon, dass diese Sanktionen nicht gewaltfrei sind und nicht zu einem Frieden zurückführen, negiert der Traum von Autarkie das von Volkswirten gerne zitierte Whisky-Tomaten-Optimum: Im feuchten Klima Schottlands keimt auf den Darrböden die für den Whisky erforderlich Gerste besser, und die Gerste auf schottischen Feldern hat höhere Erträge bei besserer Qualität als in Italien. Umgekehrt schmecken italienische Tomaten besser und sind billiger. In Schottland wären für Tomaten Glashäuser und in Italien für Gerste Bewässerung erforderlich. Das Optimum von Preis und Qualität ist nur mit einem Handelsaustausch von Whisky gegen Tomaten erreichbar. In die große Realität übertragen: Die EU tauscht mit Russland hochqualitative Technik gegen Energie und Rohstoffe. Eine Trennung des europäischen Wirtschaftsraums vermindert auf beiden Seiten den Wohlstand, macht Europa von den USA abhängiger und treibt die Russen zu den Chinesen.

Es wäre vernünftig, in Europa wieder Frieden zu suchen. Dazu müssen wir uns von den USA loslösen. Wenn wir uns den Irak, Ex-Jugoslawien, Libyen oder Afghanistan vergegenwärtigen, sehen wir, dass von "America first" nichts Gutes kommt. EU und Russland müssen sich an den Verhandlungstisch setzen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat dies bereits erkannt. Um zu gewährleisten, dass die europäischen Interessen verhandelt werden, muss die EU Stärke zeigen und die USA von diesen Friedensverhandlungen ausschließen.

Zur Abwehr des US-Kommunikationskrieges wäre ein europäischer Pressedienst, ausgestattet mit möglichst vielen qualifizierten Aufklärungsjournalisten, von der EU zu finanzieren. Dies kostetet deutlich weniger als der Bau von LNG-Häfen für US-Schiefergas, und wir würden resistent gegenüber amerikanischer Beeinflussung. Dabei dürfen wir nicht vergessen: Unser größtes Problem ist und bleibt der Klimawandel. Um ihn zu stoppen, brauchen wir eine Energiewende - und dazu brauchen wir auch Russland.