Zum Hauptinhalt springen

Ghani ruft zur Ruhe auf

Von Veronika Eschbacher

Politik

Der afghanische Präsident verspricht, die an die Taliban gefallene Provinzhauptstadt Kunduz zurückzuerobern. Der Angriff löst eine neue Debatte über die Nato-Truppenpräsenz aus. Für die Bemühungen um Friedensgespräche mit den Taliban ist die Eroberung ein herber Rückschlag.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Kunduz/Wien. Der Schock nach der Eroberung der Provinzhauptstadt Kunduz durch die Taliban sitzt in Afghanistan tief. So sehr, dass sich manche sogar hinreißen ließen, in Anlehnung auf den Blitzangriff auf die nordirakische Stadt im Juni des Vorjahres durch den Islamischen Staat von einem "Mini-Mossul" zu sprechen. Denn, so die afghanischen Kommentatoren, die Taliban hätten die Stadt nicht nur überrannt, sondern auch gleich Waffenlager geplündert, Pick-ups einkassiert und Schmuck und Geld aus den örtlichen Banken und am Geldwechselmarkt mitgehen lassen.

Die Einheitsregierung versucht nun, zu beruhigen. Eine Gegenoffensive sei gestartet, weitere Truppen zur Rückeroberung der Stadt seien auf dem Weg, hieß es aus dem Innenministerium. Präsident Ashraf Ghani rief in einer Fernsehansprache am Dienstag die Afghanen dazu auf, Ruhe zu bewahren. Er versprach der Bevölkerung, dass die Sicherheit in Kunduz wiederhergestellt werde. Dass dies rasch gelingen wird, daran zweifeln Beobachter aber. Offenbar auch Ghani selbst, denn er bat die Afghanen um Geduld: Die Taliban würden in Kunduz die Zivilbevölkerung als lebende Schutzschilde verwenden, und seine verantwortungsvolle Regierung werde nicht die eigene Bevölkerung bombardieren.

Die Bewohner von Kunduz befürchten einen langen Kampf um die fünftgrößte Stadt des Landes. Wer es schaffte, floh bereits. Insgesamt kamen die afghanischen Sicherheitskräfte am Dienstag nur langsam voran. Die Taliban verminten die Zufahrtsstraßen und griffen die Soldaten auf ihrem Weg nach Kunduz immer wieder aus Hinterhalten an. US-Truppen bombardierten laut Angaben eines Nato-Sprechers bereits Taliban-Stellungen am äußeren Rand der Stadt. Im dicht besiedelten Stadtgebiet jedoch, das die Taliban als Rückzugsgebiet nutzen, ist das nicht möglich.

Angesichts der Einnahme von Kunduz, wo bis vor zwei Jahren noch die deutsche Bundeswehr stationiert war, plädierte die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am Dienstag für eine Überprüfung der Nato-Abzugspläne. Man solle sich nicht an starren Zeitlinien orientieren, sondern vielmehr an der aktuellen Situation, sagte die Ministerin. Die Nato hatte Ende 2014 ihren Kampfeinsatz beendet. Die vor allem zu Ausbildungszwecken im Land verbliebenen gut 13.000 ausländischen Soldaten sollen laut bisherigen Plänen bis Ende 2016 vollständig abgezogen werden.

Die Eroberung von Kunduz durch die Taliban ist nicht nur eine Blamage für die afghanische Regierung genau zu ihrem ersten Jahrestag im Amt. Sie könnte auch weiterreichende Folgen haben, warnt der Afghanistan-Experte Graeme Smith: Durch die Eroberung könnte ein Neustart der Friedensgespräche, die zuletzt ins Stocken geraten waren, für die Taliban nicht mehr von Interesse sein. "Jetzt steht die Regierung vor der schwierigen Aufgabe, die Aufständischen davon zu überzeugen, dass sie am Verhandlungstisch mehr gewinnen können als am Schlachtfeld", sagte Smith gegenüber der "Washington Post".