Die hektischen Bemühungen der Außenminister in Luxemburg, eine von allen EU-Staaten getragene Formulierung des Verhandlungsmandats für den für 3. Oktober geplanten Start der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu finden, schienen zunächst am österreichischen "Veto" zu scheitern.
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Letztendlich erfolgte aber noch im Laufe des 3. Oktober die Einigung auf den so genannten Verhandlungsrahmen, was zur süffisanten Aussage so mancher anderer Delegationsleiter, aber auch der österreichischen Oppositionsparteien, führte, dass Österreich doch nachgeben musste beziehungsweise sogar "im Liegen umgefallen" sei.
So wie schon im Falle der Diskussion um die so genannten Bene-Dekrete und des grenznahen Atomkraftwerks Temelín im Zuge der Beitrittsverhandlungen der Tschechischen Republik zur EU, gelang es Österreich auch dieses mal wieder nicht, seine Bedenken und Vorbehalte durch ein "Veto" voll durchzusetzen. Offensichtlich war auch dieses Mal der "gruppendynamische" Druck der anderen 24 Mitgliedsstaaten zu groß, um alle österreichischen Forderungen durchzusetzen.
Geht man von juristischen und nicht von politischen, psychologischen oder soziologischen Voraussetzungen aus, dann handelte es sich bei diesen beiden Fällen um die Eröffnung beziehungsweise den Abschluss von Beitrittsverhandlungen von Drittstaaten zur EU nach Art. 49 EU-Vertrag (EUV), die dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegen. Österreich wäre daher formell ohne weiteres in der Lage gewesen, die Eröffnung oder den Abschluss der Gespräche zu blockieren. Ebenso herrscht auch im Unionsrecht der "Zweiten" (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, GASP) und der "Dritten Säule" (Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, PJZS) das Einstimmigkeitsprinzip vor, das es einem Mitgliedsstaat an sich ermöglichen würde, ein "Veto" zu deponieren. In der "Zweiten Säule" könnte ein solches Veto allerdings durch ein "konstruktives Veto" gem. Art. 23 Abs. 1 UAbs. 2 EUV umgangen werden, aufgrund dessen ein Mitgliedstaat einem Rechtsakt zustimmen könnte, ohne allerdings an ihn gebunden zu sein.
Im Gemeinschaftsrecht der "Ersten Säule" gibt es eine Reihe von Materien, in denen nach wie vor das Einstimmigkeitserfordernis herrscht. In diesen Fällen steht einem Mitgliedstaat daher ein blockierendes Veto zu. Aber auch in den Fällen einer - absoluten oder qualifizierten - Mehrheitsentscheidung, in denen ein Mitgliedsstaat überstimmt werden könnte, existiert ein Mechanismus, der in praxi einem "Veto" gleichkommt - nämlich der "Luxemburger Kompromiss". Diese aus dem Januar 1966 stammende Übereinkunft der Mitgliedsstaaten besagt, dass ein Staat in "vitalen Angelegenheiten" nicht überstimmt werden soll, wobei das betreffende Land seine Ausnahmesituation zu begründen hat und damit auch nicht Obstruktion betreiben darf.
Seit 1966 ist der "Luxemburger Kompromiss" lediglich ein einziges Mal gebrochen worden, nämlich im Falle der Opposition Großbritanniens gegen Beschlüsse des Rates für Landwirtschaft im Jahre 1982. Obwohl es danach viele Überstimmungen von Mitgliedstaaten im Bereich von Mehrheitsentscheidungen gegeben hat, ist es dabei nie mehr zur Anrufung des "Luxemburger Kompromisses" gekommen. Die Mitgliedsstaaten verstehen den Luxemburger Kompromiss" nur als ultima ratio, um damit eine formelle Entscheidung zu verhindern, die sie unter Umständen zum Austritt aus der EU zwingen würde.
Zur Person
Waldemar Hummer ist Universitätsprofessor für Völker- und Europarecht am Institut für Völkerrecht, Europarecht und Internationale Beziehungen der Universität Innsbruck. Foto: privat