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Gibt Notstand der Regierung Vollmacht?

Von Manfred Machold

Recht
© WZ-Illustrationen, Moritz Ziegler

Selbst in Krisensituationen ist die Regierung keineswegs ermächtigt, sich über Verfassungsregelungen hinwegzusetzen.


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Manche meinen, Maßnahmen zur Bewältigung einer Krise wie der Corona-Pandemie müssten unbedingten Vorrang haben, die Verfassung also zumindest in Teilbereichen vorübergehend außer Kraft setzen können. Auf den ersten Blick scheint viel dafür zu sprechen. Und als Bestätigung kann auf die bisherige Erfolgsbilanz verwiesen werden. Dennoch ist nicht bloß Vorsicht am Platz, sondern ein klares Nein - wie sogleich zu zeigen ist. Zuvor aber soll die Gegenfrage eingewendet werden: Warum stand eine Notstandsregierung niemals zur Debatte? Unter Beteiligung aller Parlamentsfraktionen?

Bekanntlich wurde die gegenwärtige Koalition als Antwort auf die Folgen einer früheren Krise ("Ibiza 2019") gebildet. Sie beruht auf einem Minimalkonsens über den Geschäftsgang bis zur nächsten Wahl. In der offensichtlichen Ausnahmesituation, die das Coronavirus erzeugt hat, ist aber die Einbindung aller verfügbaren Kräfte geboten. Zu einer solchen maximalen Anstrengung war die Regierung in Übereinstimmung mit der Verfassung verpflichtet; keineswegs war sie hingegen ermächtigt, sich über Verfassungsregelungen aller Art hinwegzusetzen.

Für einen Notstand wie den gegenwärtigen ist vorgesorgt: Nach Artikel 18 Absatz 3 im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) sind notwendige Sofortmaßnahmen durch vorläufige gesetzändernde Verordnungen des Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung zu treffen. Die Regierung hat dabei das Einvernehmen mit dem ständigen Unterausschuss des Hauptausschusses des Nationalrats herzustellen, in dem sämtliche Parlamentsfraktionen vertreten sind.

Es mag sein, dass die hier genannten Beteiligungen einen gewissen Aufwand bedingen, der (noch?) nicht geläufig ist. Er dürfte aber kaum wesentlich größer sein als jener, den die Koordination der zahlreichen und häufig ohne gesetzliche Grundlage beschlossenen Verfügungen seitens der Bundesregierung und ihrer Berater mit sich brachte.

Die Bundesregierung war bemüht, den Eindruck zu vermitteln, trotz der Krise Herr der Lage zu sein. Es fiel daher auf, dass man davon Abstand nahm, zu erklären, weshalb die außerordentlichen Verhältnisse in der Folge von Corona nicht zum Einsatz der von der Verfassung eben dafür vorgesehenen Instrumente geführt haben. Vielmehr wurde dies für entbehrlich gehalten und statt dessen schrankenlos improvisiert. Mit Bedacht? Oder aus Vergesslichkeit?

Multiples Organversagen

Schwerlich wird zu bestreiten sein, dass der Anlass Covid-19 nahegelegt - wo nicht verlangt - hat, den Anordnungen von Art. 18 Abs. 3 B-VG Rechnung zu tragen. Dass selbst eine solche Prüfung offenbar unterlassen, zumindest aber der Öffentlichkeit vorenthalten wurde, lässt auf multiples Organversagen schließen.

Dem ist ehestens entgegenzuwirken: zwecks Herstellung des verfassungsmäßigen Zustandes im Nachhinein - wie immerhin angekündigt -, ebenso aber auch zwecks Vorbereitung auf eine Wiederholung in der Zukunft. Wenn es zutrifft, dass bestimmte Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus über Bezirksgrenzen hinweg und auf das Ausland auch daran gescheitert sind, dass ein brauchbarer Vorakt fehlte, könnte sich beispielsweise beim Eintritt eines Gebrechens an einem Atomreaktor nahe der österreichischen Grenze Ähnliches ereignen, wie unter dem Einfluss von Corona. Oder andere, weltweit beobachtete Epidemien breiten sich auf Österreich aus.

Ein Notstandsplan ist also jedenfalls zu erstellen und soweit umzusetzen, dass seine Wirksamkeit im Ernstfall wahrscheinlich, weil erprobt ist. Dazu war die Bundesregierung schon bisher - und ohne akute Bedrohung - verhalten, sowohl aufgrund der Anordnungen der Bundesverfassung wie aus bloßen praktischen Erfordernissen.

Gegen die eingangs erwähnte Auffassung, der Bundesregierung stünde es zu, die Verfassung "bei Bedarf" zu suspendieren, bestehen demnach schwerwiegende Bedenken. Es bleibt zu fragen: Wie konnten sämtliche Beteiligten darüber hinwegsehen?

Wer solche Überlegungen für inopportun oder gar für einen Luxus hält, ist eingeladen, den Nachweis zu erbringen, dass Art. 18 Abs. 3 B-VG von Vornherein nicht auf die Corona-Krise anzuwenden war beziehungsweise ist. Das hieße, dass die wohlbedachten Notstandsvorkehrungen der Bundesverfassung für andere Gefährdungen reserviert sind. Aber für welche?

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