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"Gigant der Geschichte"

Von Thomas Seifert

Politik

Der Tod von Singapurs langjährigem Staatenlenker Lee Kuan Yew ist eine Zäsur in der Geschichte des Stadtstaats.


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Singapur. Der Tod eines Menschen bietet die Gelegenheit zur Reflexion, bietet die Chance, blinde Flecken in der Biografie des Verstorbenen auszuleuchten und schafft für Zeitgenossen die Möglichkeit zur Erinnerung.

Wenn es sich dann um einen "Giganten der Geschichte" (© US-Präsident Barack Obama) wie Lee Kuan Yew handelt, gilt dies umsomehr. Denn kaum jemand hat die Geschichte Ost- und Südostasiens mehr geprägt als der "Vater des modernen Singapur", Lee Kuan Yew, der am Sonntag im Alter von 91 Jahren verstarb.

Lee wird oft mit dem jugoslawischen Diktator Marschall Josip Broz Tito verglichen. Denn Tito versuchte, die jugoslawische Nation aus einem multiethnischen und multireligiösen Staat zu formen. Ein Versuch, der sich nach seinem Tod als tragisch gescheitert erweisen sollte. Lee Kuan Yew lenkte einen Stadtstaat, der ebenfalls multireligiös und multiethnisch ist und dem "alle Ingredienzien für eine erfolgreiche Nation fehlen", wie Lee 2007 in einem Interview mit der New York Times" selbst sagte. "Nämlich eine homogene Bevölkerung, eine gemeinsame Sprache oder Kultur oder ein gemeinsames Schicksal." Tatsächlich: Die ethnischen Chinesen, Inder und Malay, die die Bevölkerung Singapurs bilden, haben tatsächlich wenig bis gar nichts gemein, dazu kommen noch die tausenden Expats aus Europa, Nordamerika und anderen Teilen Asiens, die sich im Stadtstaat niedergelassen haben und dort vor allem ihr wirtschaftliches Glück suchen.

Die Schweiz Südostasiens

Und dennoch wurde unter Lees Führung Singapur zu einer Art Schweiz Südostasiens, gebaut auf den Werten Stabilität, Disziplin und Pragmatismus. Die Stadt ist heute ein Finanzdienstleistungszentrum ersten Ranges, eine blitzblanke Stadt mit beneidenswerter Lebensqualität, und ein Transportknotenpunkt von Weltrang (Singapur verfügt über den zweitwichtigsten Containerhafen der Welt, Changi Airport steht auf der Flughafen-Weltrangliste auf Platz 17).

Lee Kuan Yews Verdienst war es, aus der rückständigen und rohstoffarmen Stadtstaat-Insel innerhalb weniger Jahrzehnte eine Stadt geschaffen zu haben, die weit über ihrer Gewichtsklasse spielt.

Auch Lee spielte weit über der Gewichtsklasse eines Bürgermeisters eines Stadtstaats. Ob er sich manchmal gefragt hat, was er bewegen hätte können, hätte er die Geschicke einer großen, mächtigen Nation gelenkt? Der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt gehörte ebenso zu seinen Fans wie der frühere US-Außenminister Henry Kissinger und der frühere starke Mann Chinas, Deng Xiaoping.

Die Begegnung zwischen Deng Xiaoping und Lee Kuan Yew ist in Ezra Vogels Deng Xiaoping-Biografie verewigt: Wie Lee - der Rauchen, Alkohol und Ausspucken verabscheute - anlässlich des Besuchs von Deng Xiaoping im November 1978 in Singapur extra für Deng einen Aschenbecher samt Rauchabzug sowie einen Spucknapf in seinem Büro aufstellen ließ. Lee Kuan Yew wusste, dass Deng passionierter Raucher war und auch nichts Unanständiges daran fand, zu Boden zu spucken. Deng wiederum wusste um Lee Kuan Yews Abscheu vor dem Rauchen und Spucken und unterließ beides.

Und so wurde Singapur, das Ende der 70er Jahre schon hoch entwickelt war, für Deng Xiaoping ein Vorbild bei der Entwicklung Chinas. Von Deng Xiaoping stammt der Ausspruch, es sei egal, ob die Katze schwarz oder weiß sei, solange sie nur Mäuse fängt - in ihrem Radikal-Pragmatismus waren sich die beiden Männer einig, denn für Lee zählte ebenfalls nur der Erfolg seines Stadtstaats. Und unter Erfolg verstand Lee nicht die Zufriedenheit der Bürger, oder die Qualität der Demokratie, sondern Wirtschaftswachstum und Stabilität.

Benevolenter Diktator

Lee Kuan Yew führte Singapur wie ein benevolenter Diktator, ein aufgeklärter Absolutist. Um die Harmonie nicht zu gefährden, ist die Rede- und Versammlungsfreiheit bis heute eingeschränkt, die Medien sind am Gängelband der Regierung und Oppositionelle wurden in der Vergangenheit mit Verleumdungsklagen mundtot gemacht. "Lees Verdienste um die Entwicklung Singapurs sind beispiellos", meinte Rupert Abbott von Amnesty International. "Aber es gibt auch eine dunkle Seite: Zu oft sind Grund- und Menschenrechte dem Wirtschaftswachstum geopfert worden."

Lee Kuan Yew hielt zeit seines Lebens auch nicht allzu viel von westlichen Tugenden: Für ihn war der Triumph konfuzianischer Werte Garant für die Erfolgsgeschichte Asiens. Disziplin, Ordnung, beinahe unstillbarer Bildungshunger und Respekt vor dem Alter seien wichtiger als Individualismus, Liberalismus, Pluralismus und Demokratie.

Mit eiserner Hand dirigierte Lee Kuan Yew Singapur, führte das Land aus der britischen Kolonialabhängigkeit. 31 Jahre lang blieb er an der Spitze der Regierung - bis 1990. Das Wahlsystem sorgt dafür, dass seine People Action Party (PAP) jede Wahl seit der Unabhängigkeit 1965 gewonnen hat, auch wenn die Zustimmung in der Bevölkerung zuletzt gelitten hat. Nicht zuletzt der Nepotismus ist es, der viele Menschen in Singapur verärgert: Lees ältester Sohn Lee Hsien Loong ist heute Premier von Singapur, dessen Frau Ho Ching ist Chefin der Staatsholding Temasek, Lees jüngster Sohn Lee Hsien Yang ist Chef der staatlichen Telekom-Firma SingTel.