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Gilbert Achcar

Von Jeannette Villachica

Reflexionen

Gilbert Achcar, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität London, spricht über den Umgang der Araber mit dem Holocaust - und über dessen Instrumentalisierung durch beide Seiten im Nahost-Konflikt.


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"Wiener Zeitung": Herr Professor Achcar, in Ihrem neuen Buch, "Die Araber und der Holocaust", gehen Sie ausführlich auf das historische Verhältnis arabischer Staaten zum Judentum und zu Israel ein, ebenso zu den westlichen Kolonialmächten und zum Nationalsozialismus. Für wen haben Sie dieses Buch vor allem geschrieben: Für die Araber, speziell die Palästinenser, für die Israelis oder die Deutschen?

Gilbert Achcar.
© Foto: Anna Schmidt

Gilbert Achcar: Um ehrlich zu sein, für alle. Mein Ziel war es, gegen eine riesige Geschichtsverzerrung anzugehen - dagegen, dass immer wieder behauptet wird, die Araber seien Verbündete der Nationalsozialisten gewesen und somit zumindest teilweise schuld am Holocaust. Die historische Wahrheit wiederherzustellen, ist in erster Linie für die Allgemeinheit wichtig, dann für die Israelis beziehungsweise Menschen jüdischer Abstammung. Und es ist für die Araber wichtig, weil sie das Bild von sich, das durch die Propaganda entstanden ist, mit der Zeit verinnerlichen, wenn man nicht klarmacht, dass der Antisemitismus in der arabischen Welt keine Tradition hat.

Sie schreiben, dass es im Koran und in traditionellen islamischen Schriften kaum Hinweise auf Antisemitismus gibt - im Gegensatz zu christlichen Schriften. Bedeutet das, dass der Antisemitismus durch die Kolonialisierung in die arabische Welt kam?

Nein. Vereinzelt findet man schon antijüdische Stellen in islamischen Schriften, allerdings viel weniger als in christlichen. Juden und Christen wurden in der muslimischen Welt als "Völker des Buches" betrachtet und daher geschützt, anders als die Anhänger anderer Religionen. Natürlich gab es einige Reibungen zwischen Muslimen und Juden, man darf es auch nicht durch eine rosarote Brille sehen, aber eben viel weniger als in Europa zwischen Christen und Juden.

Wann änderte sich das?

1917 gaben die britischen Besatzer der zionistischen Bewegung grünes Licht für die Kolonialisierung Palästinas. Von da an kamen tausende Juden aus Mittel- und Ost-Europa, und wie überall, wo viele europäische Siedler auf einmal ins Land kommen und auch noch ihren eigenen Staat gründen wollen, war die örtliche Bevölkerung nicht begeistert. Da Jerusalem zudem ein religiöser Ort ist, entstand auf muslimischer Seite der Eindruck, die zionistischen Juden würden Jerusalem einnehmen wollen. Damit begann der Import des Antisemitismus in den fundamentalistischen islamischen Diskurs. All die Theorien von der jüdischen Weltverschwörung, der Verantwortung der Juden für den Ersten Weltkrieg usw. hatten aber nichts mit den Arabern zu tun. Diese Ideen verbreiteten sich vor allem in deutschsprachigen Ländern und in Westeuropa.

Sie analysieren die Haltung der Öffentlichkeit in arabischen Ländern während der NS-Zeit anhand vier großer Strömungen: den westlich orientierten Liberalen, den Marxisten, den Nationalisten und den Reaktionären beziehungsweise fundamentalistischen Panislamisten. Von rigoroser Ablehnung der Nazi-Ideologie bis zu Parteien, die fast ein Klon der NSDAP waren, sei alles dabei gewesen, schreiben Sie, aber als Beleg für die angebliche Kooperation der Araber mit den Nazis werde immer der Großmufti von Jerusalem angeführt.

Der berühmte Mufti wurde zu seiner Zeit von sehr vielen Arabern heftig kritisiert, auch von den Führern nationalistischer Bewegungen. Nach 1941, als er in Europa lebte und mit dem Nazi-Regime und mit Mussolini kollaborierte, rief er dazu auf, sich den Nazis anzuschließen, aber niemand folgte ihm. Obwohl die Deutschen im Krieg die Feinde der verhassten britischen Kolonialmacht waren, findet man nur wenige Araber auf der Seite der Nazis. Die 9000 Palästinenser, die in der britischen Armee kämpften, waren nicht dazu verpflichtet. Die Zahl der Araber, die der Nazi-Ideologie anhingen, war sehr begrenzt, verglichen mit nahezu jedem europäischen Land, ja sogar im Vergleich mit Großbritannien und den USA.

Im Juni 1941 gab es in Bagdad das erste antijüdische Pogrom in der arabischen Welt. Wie kam es dazu?

Es gab im Irak Ultra-Nationalisten, die den antijüdischen Diskurs pflegten. Als die Briten angriffen, um das nationalistische Regime zu stürzen, bezeichneten Militärs in Bagdad die Juden als fünfte Kolonne des britischen Empires. Dieses Pogrom blieb das einzige Ereignis dieser Art während des Zweiten Weltkriegs. Dabei wurden weniger als 200 Menschen getötet, was natürlich eine große Zahl ist, die jedoch sehr viel größer gewesen wäre, wenn nicht viele Moslems ihre jüdischen Nachbarn geschützt hätten.

"Vereinzelt findet man schon antijüdische Stellen in islamischen Schriften, allerdings viel weniger als in christlichen": Gilbert Achcar im Gespräch mit "Wiener Zeitung"-Mitarbeiterin Jeannette Villachica.
© Foto: Anna Schmidt

Die jüdische Gemeinde in Bagdad war eine sehr alte und sehr große Gemeinde. Bei der Bekämpfung dieses Pogroms durch irakische Truppen wurden 600 Moslems getötet. Trotz des Pogroms blieb die jüdische Gemeinde im Irak; das zeigt, dass sie sich nicht permanent bedroht fühlte. Viele Juden waren wohlhabend, sie lebten wirklich gerne dort. Das war auch der Grund, warum sie den Zionismus ablehnten. Zionismus entstand unter europäischen Juden und war ein Projekt für sie, nicht für arabische Juden.

Die Phasen der jüdischen Immigration nach Palästina waren immer an die Ereignisse in Europa gekoppelt. Was nicht so bekannt ist: Die Emigration deutscher Juden nach Palästina wurde sogar von den Nazis organisiert.Hitlers Regime wollte nicht, dass die Juden in die USA oder nach Großbritannien auswandern, weil es fürchtete, dass sie dort die öffentliche Meinung gegen die Deutschen drehen könnten. Die NS-Regierung vereinbarte also 1933 mit der zionistischen Bewegung, dass sie die Auswanderung von deutschen Juden nach Palästina organisieren würde. Von da an war Palästina das einzige Land, in das deutsche Juden ihre Besitztümer mitnehmen durften. Das lockte Zehntausende an. Später kamen natürlich noch viel mehr auch aus anderen Ländern. Das heißt, ohne den Nationalsozialismus hätte es in Palästina nie genug Juden für einen eigenen Staat gegeben. Die anderen europäischen Staaten und die USA unterstützten die Gründung Israels in Palästina, weil sie die Holocaust-Überlebenden loswerden wollten. Man muss es sagen, wie es ist: Die Westmächte haben ihre Türen nicht vor, während oder nach dem Krieg für die Juden geöffnet. Auf der Konferenz von Évian 1938 boten nur ein paar kleine mittelamerikanische Staaten an, die Juden aufzunehmen. Es gibt also eine Scheinheiligkeit der Westmächte in dieser Angelegenheit, auf Kosten der Palästinenser.

Dieses Gefühl der Scheinheiligkeit hat sich tief in die arabische Seele gegraben.

Das ist wahrscheinlich das einzige Argument, das alle Araber vereint: Dass die Juden in Europa verfolgt wurden, gibt ihnen nicht das Recht, zu Verfolgern der Palästinenser zu werden. Warum sollen ausgerechnet die Palästinenser für die Verfolgung, Unterdrückung und Ermordung der europäischen Juden zahlen?

Sie betonen auch, man könne den Hass in arabischen Ländern nicht mit dem Antisemitismus in Europa vergleichen, weil er kein unbegründeter Rassenhass, sondern das Ergebnis des Nahostkonflikts sei.

Wenn wir ethisch oder moralisch urteilen, müssen wir die Dinge in ihren Zusammenhang stellen. Der Judenhass in Europa, diese schreckliche Ideologie, ist nicht entstanden, weil die Nichtjuden von den Juden unterdrückt wurden, sondern aufgrund reiner Hirngespinste. Natürlich ist jede Verallgemeinerung schlecht, aber das kann man doch nicht vergleichen mit dem Hass auf Juden von Palästinensern oder Libanesen, die unterdrückt wurden, deren Land zerstört wurde, die aus ihrem eigenen Land vertrieben wurden, deren Landsleute zu Tausenden getötet wurden!

In einem Teil Ihres Buches beschreiben Sie, wie im Nahostkonflikt beide Seiten die Begriffe "Holocaust" und "Antisemitismus" als Kampfmittel einsetzen.

Ja, es ist zugleich tragisch und normal, dass der Völkermord an den Juden, der natürlich eines der tragischsten geschichtlichen Ereignisse mit weltweiter Bedeutung ist, dass dieses Ereignis im israelisch-palästinensischen Konflikt für politische Zwecke instrumentalisiert wird. Der Holocaust wurde und wird für die Rechtfertigung des israelischen Staates auf palästinensischem Gebiet und allem, was damit zusammenhängt, eingesetzt. Wer die Palästinenser als Mitverantwortliche für den Holocaust hinstellt, obwohl sie weder direkt noch indirekt damit zu tun hatten, kann die Besetzung ihres Landes besser vor sich und der Welt rechtfertigen.

Manchmal nimmt diese Instrumentalisierung des Holocaust groteske Formen an. Als Beirut während des Libanonkriegs monatelang von den Israelis besetzt war und sich die internationale Gemeinschaft große Sorgen um die Bevölkerung machte und sogar in Israel einige Holocaust-Überlebende die Besetzung von Beirut mit dem Warschauer Ghetto verglichen, schrieb Ronald Reagan dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin. Der antwortete in einem offiziellen Brief so: "Mr. President, meine Armee steht Hitler in seinem Bunker gegenüber." Damit meinte er Jassir Arafat.

Der Holocaust wird auch heute noch von der israelischen Regierung für die Rechtfertigung ihrer Politik instrumentalisiert. Damit macht man jegliche Kritik unmöglich. Das ist das, was Günter Grass meinte.

Die andere Seite im Nahostkonflikt setzt dagegen die Holocaust-Leugnung als politisches Mittel ein.

Ja, diese Reaktion einiger Palästinenser - natürlich längst nicht aller Palästinenser - ist ein Akt der Wut, ein sehr emotionaler Akt. Hinzu kommt, dass es aufgrund der Dummheit arabischer Regime und der Zensur in der Bevölkerung so gut wie kein Wissen über den Holocaust gibt. Das wird nicht unterrichtet. Von daher glauben es viele Menschen, wenn ihnen jemand sagt, der Holocaust sei ein Mittel der zionistischen Verschwörung. Verschwörungstheorien sind überhaupt sehr populär im Nahen Osten, eine bizarre Tradition. Eine Ausnahme, was das Wissen über den Holocaust angeht, bilden die Palästinenser, die in Israel leben, weil man dort nicht leben kann, ohne vom Holocaust zu wissen. Man könnte also meinen, unter ihnen könne es keine Holocaust-Leugner geben.

Gilbert Achcar.
© Foto: Anna Schmidt

Was jedoch nicht der Fall ist.

Nein, im Gegenteil. Eine Studie der Universität Haifa in den 2000er Jahren hat gezeigt: Je höher die Ausbildung der Palästinenser, desto mehr Holocaust-Leugner gibt es unter ihnen. Bei der ersten Umfrage waren es 28 Prozent, zwei Jahre später 40 Prozent. Der Grund: 2006 fanden die israelische Invasion in den Libanon und der Gaza-Krieg statt. Ich bin sicher, wenn die Umfrage zur Zeit des Oslo-Abkommens 1993/94 durchgeführt worden wäre, als die Menschen an den Frieden glaubten, wäre der Prozentsatz sehr niedrig gewesen. Das bedeutet, dass die Holocaust-Leugnung meist eine Trotzreaktion ist. Außerdem gibt es in der arabischen Welt keine sogenannten wissenschaftlichen Theorien von Holocaust-Gegnern, wie sie im Westen immer wieder formuliert werden. Die Holocaust-Leugnung in der arabischen Welt ist nicht auf Rassenhass begründet.

Aber je länger der Nahostkonflikt anhält, desto mehr verwandelt sich die Wut auf den israelischen Staat doch in antijüdische Gefühle, oder?

Das scheint im Moment so, aber das israelisch-palästinensische Verhältnis ist ständig in Bewegung, es kann sich auch verbessern. In den 1970er Jahren war die Vorstellung, dass man den israelischen Staat anerkennen könnte, unter Arabern tabu - heute ist das längst Realität. Seitdem gab es ein häufiges Auf und Ab, viel Spannungen und Hass auf beiden Seiten. Wenn wir über Antisemitismus bei Arabern sprechen, müssen wir aber auch über die extreme Zunahme antiarabischen Rassismus‘ unter Israelis sprechen. Es gibt viele Studien, die das belegen, unter anderem von Menschenrechtsorganisationen in Israel.

Im Moment sieht es nicht nach Annäherung aus.

Nein, die Entwicklung geht hin zu Extremen: In der arabischen Welt in der Opposition unter islamischen Fundamentalisten, die von der Regierung unterdrückt wurden, wie in Ägypten von Mubarak, und in Israel auf Regierungsebene. Wenn Israel so weitermacht, bewegen wir uns auf eine Katastrophe zu. Diese Anhäufung von Waffen in der Region . . . Nehmen wir an, der Iran hätte wirklich bald Atomwaffen und der Terrorismus nimmt zu . . . Wo soll das enden? Die Alternative ist, dass die öffentliche Meinung in Israel umschwenkt.

Was könnte dazu führen?

Es ist auch eine soziale Frage. Bei den "Zeltaktionen" in Tel Aviv letzten Sommer protestierten junge Israelis dagegen, dass Wohnraum in Israel so teuer geworden ist, dass sie sich keine eigene Wohnung mehr leisten können. Die Vertreter der Rechten würden sagen: Zieht doch in die Westbank! Da könnt ihr eine Villa umsonst haben. Aber die jungen Leute aus Tel Aviv wollen nicht in die Westbank. Wenn mehr in ihr Bewusstsein dringen würde, wie sehr die koloniale Politik ihrer Regierung ihren eigenen Interessen widerspricht, wäre das ein großer Schritt. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Kein Volk hat unabänderliche politische Ansichten - sie können sich ändern.

Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als freie Journalistin in Hamburg.

Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> Gilbert Achcar wurde 1951 im Senegal geboren, lebte aber bis 1983 im Libanon. Er studierte Philosophie und Sozialwissenschaften in Beirut und Sozialgeschichte und Internationale Beziehungen in Paris. Er forschte und lehrte an verschiedenen Universitäten und Forschungszen-tren in Beirut und Paris. Von 2003 bis 2007 war er Forschungsbeauftragter am Centre Marc Bloch in Berlin und seit August 2007 ist er Professor für Entwicklungsstudien und Internationale Beziehungen an der Universität London. Er lebt in der englischen Hauptstadt und ist mit einer Österreicherin liiert.
Achcar publiziert über internationale Beziehungen, insbesondere über Nahost und Nordafrika. Er ist zweisprachig (Arabisch/Französisch), schreibt seine Bücher aber auf Französisch, "weil das einfacher zu übersetzen ist als das Arabische". 2007 erschien von ihm "Der 33-Tage-Krieg. Israels Krieg gegen die Hisbollah im Libanon und seine Folgen" (Edition Nautilus).
Sein neues Buch, "Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen" (Nautilus Verlag, Hamburg 2012, 368 Seiten, 30,80 Euro), ist eine umfassende Darstellung der Haltung verschiedener politischer Strömungen in der arabischen Welt dem Holocaust gegenüber. Es geht auch darum, wie der Holocaust als Teil der arabischen Geschichtsschreibung verstanden wird und wie Begriffe wie Shoah, Holocaust und Nakba (die Flucht der Palästinenser und ihre Vertreibung durch den israelischen Staat) im Nahostkonflikt von beiden Seiten instrumentalisiert werden. Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit arabischen Reaktionen auf den Nationalsozialismus und Antisemitismus von 1933 bis 1947. Der zweite Teil behandelt arabische Einstellungen gegenüber den Juden und dem Holocaust von 1948 bis heute.