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Grundrechtsdiskussionen sind schwierige Diskussionen. Als Beispiel dafür kann Österreich gelten: weder der Ersten noch die Zweiten Republik gelang es, einen eigenen, zeitgemäßen Grundrechtskatalog zu formulieren. In manchen Fällen erinnern die Diskussionen, die derzeit auf europäischer Ebene geführt werden, durchaus an die vergangenen heimatlichen Auseinandersetzungen.
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Symptomatisch ist, dass die Österreichische Bundesverfassung das Wort "Grundrechte" gar nicht kennt. Das überrascht auch nicht, ist doch die Vorstellung, dass der Mensch mit seiner Person verbundene und daher unabdingbare Rechte habe, eine durch und durch naturrechtliche und die österreichische Verfassung von der Schule des Wiener Rechtspositivismus geprägt. Die Rede ist vielmehr von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und eben auf dies konnte man sich materiell im Rahmen der Verfassungsdiskussion der Ersten Republik nicht einigen. Schon damals war das, was man heute als soziale Grundrechte bezeichnen würde ein Streitpunkt. Die nicht unösterreichische Lösung bestand darin - als Provisorium - die Regelungen der Monarchie zu übernehmen, somit die Bestimmungen des Staatsgrundgesetzes von 1867. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man sich nicht auf einen eigenständigen Grundrechtskatalog einigen. Die Frage wurde durch den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention gelöst, der als völkerrechtlichem Vertrag innerstaatlich Verfassungsrang zugebilligt wurde. Damit war ein moderner Grundrechtsschutz in Österreich sichergestellt.
Die Diskussion über den Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausweitung der Tätigkeitsbereiche der Union, die zunehmend auch stärker grundrechtsrelevante Felder umfasst. Man denke nur an die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres.
Es ist nicht so, dass es auf Gemeinschaftsebene derzeit gar keinen Grundrechtsschutz gäbe: Vereinzelte Bestimmungen finden sich schon in den Gründungsverträgen, allerdings gibt es keinen geschriebenen Grundrechtskatalog. Der Unionsvertrag nimmt in Art. F explizit Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Dort wird festgelegt, dass die Union die Grundrechte, wie in der EMRK festgelegt, achtet.
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
Eine gemeinschaftliche Grundrechtsordnung hat sich jedoch erst auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) herausgebildet. Danach gehört die Beachtung der Grundrechte zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern habe. Bei der Konkretisierung dieser Rechtspositionen bedient sich der EuGH zum einen der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten, zum anderen aber auch internationaler Verträge, wie insbesondere der EMRK. Oder etwas vereinfacht formuliert: Wenn in allen Mitgliedstaaten und der EMRK Rechte wie das Eigentumsrecht, die Berufsfreiheit, die Meinungsfreiheit etc. geschützt sind, so werden sie auch in der Gemeinschaft gewährleistet.
Daher war die Idee, die Union könnte insgesamt der EMRK beitreten nicht besonders originell. Allein der Gerichtshof der Gemeinschaft sah hier institutionelle Probleme - insbesondere seine eigene Rolle betreffend - und gemeinsam mit den Vorbehalten einiger Mitgliedstaaten war damit dieses Thema als schnelle Lösung somit vorerst vom Tisch.
Welchen Grundrechtskatalog braucht die Union?
Es gibt also legitimerweise verschiedene Auffassungen darüber, ob und wenn ja welchen Grundrechtskatalog die Union braucht. Dabei ist die gesamte Diskussion wohl auch im Kontext der Diskussion über eine Europäische Verfassung zu sehen. Jene, die für eine weitere Konstitutionalisierung Europas eintreten, kämpfen auch für einen verbindlichen Grundrechtskatalog. Folgerichtig war es auch die deutsche Ratspräsidentschaft, die die Grundrechtscharta zu einem Ihrer vorrangigen Ziele erklärt hat und mit dem Gipfel von Köln im Juni 1999 dieses Projekt auf den Weg geschickt hat.
Zur Formulierung der Charta wurde ein eigenes Gremium, der Konvent, ins Leben gerufen: Dem Konvent gehören 62 Beauftragte der Staats- bzw. Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des Präsidenten der Kommission, des Europäischen Parlaments und der mitgliedsstaatlichen Parlamente an. Vier Vertreter des Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, des Europarates und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden als Beobachter an den Arbeiten beteiligt.
Mehrheit will eher eine politische Deklaration
So offen wie die Schlussfolgerungen von Köln in ihrem Arbeitsauftrag an den Konvent hinsichtlich des Charakters der Grundrechtscharta sind, so unentschieden ist diese Frage nach wie vor. Die große Mehrzahl der Mitgliedstaaten steht einem verbindlichen Text skeptisch gegenüber und wünscht sich eher eine politische Deklaration, die Europa als Wertegemeinschaft darstellt. Österreichs Position lautet übrigens erst den Text zu formulieren und dann über dessen Charakter zu entscheiden.
Dem gegenüber steht insbesondere das Europäische Parlament, das einen verbindlichen Rechtstext fordert. Mehr noch, nicht nur dass sich das EP mehrheitlich gegen "Grundrechte ohne Rechte" stellt. In einem Bericht der Europaabgeordneten Voggenhuber und Andrew Duff, einem englischen Liberalen, wird das scheinbar Unmögliche gefordert: Die Charta müsse neben alten Freiheitsrechten auch neue Grundsätze aufnehmen, etwa das Recht auf Datenschutz und "informationelle Selbstbestimmung" sowie ein Verbot des Klonens. Auch soziale Grundrechte dürften kein Tabu sein, so war aus dem EP zu hören.
Viele dieser Forderungen finden auch im EP keine einhellige Zustimmung und stoßen insbesondere in manchen Mitgliedstaaten auf heftige Ablehnung.
Auch wenn noch nicht sicher ist, was dabei heraus kommen soll, im Zeitplan spitzt sich alles auf den Gipfel in Nizza, am Ende der französischen Präsidentschaft, zu. Dort könnte entweder eine politische Deklaration verabschiedet oder im Rahmen des Abschlusses der Regierungskonferenz auch ein verbindlicher Rechtstext beschlossen werden, der in den Vertragstext eingebunden wird. Nach Auffassung der Bundesrepublik, aber etwa auch nach den Vorstellungen des Europasprechers der SPÖ, Caspar Einem, sollte gleichzeitig mit den Wahlen zum Europäischen Parlament 2004 einer Volksabstimmung zur Grundrechtscharta stattfinden.
Kommentare der Mitglieder des Konvents
Am 31. Juli wurde vom Präsidium ein vollständiger Entwurf einer Charta der Grundrechte der Europäische Union an die Mitglieder des Konvents verteilt. Diese haben nun bis 11. September Zeit, um dem Vorsitzenden, Roman Herzog, Kommentare zu übermitteln.
Zu dem Text gehört eine Präambel, in der unterstrichen wird, dass "der Genuss dieser Rechte Verantwortung und Pflichten sowohl hinsichtlich anderer wie hinsichtlich der menschlichen Gemeinschaft und der künftigen Generationen mit sich bringt". Es folgen sechs Kapitel betreffend:
- die menschliche Würde mit einem Artikel zum Recht des Menschen auf Integrität. Es ist kein generelles Verbot des Klonens vorgesehen, wie einige vorgeschlagen hatten, sondern lediglich ein Verbot des Klonens von Menschen zu Reproduktionszwecken.
- die Freiheiten: Erwähnung finden insbesondere das Recht auf das Nachrichtengeheimnis und das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten. Eine bedeutende Stellung wird der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie der Ausdrucks- und Informationsfreiheit gewidmet. Ein Artikel sieht ausdrücklich vor, dass die politischen Parteien in Europa zum Ausdruck des politischen Willens der EU-Bürger beitragen. In einem anderen wird verfügt, dass "die wissenschaftliche Forschung frei ist".
- die Gleichheit: Eine wichtige Stellung wird dem Verbot der Diskriminierung, der Chancengleichheit von Frauen und Männern und den Rechten der Kinder eingeräumt.
- die Solidarität: Das Kapitel umfasst die Wirtschafts- und Sozialrechte. Insbesondere ist vorgesehen, dass die Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Recht haben, Tarifvereinbarungen auszuhandeln und abzuschließen und bei Interessenkonflikten auf gemeinsame Aktionen für die Verteidigung ihrer Interessen unter Bedingungen zurückzugreifen, die vom Gemeinschaftsrecht und gemäß innerstaatlicher Rechtsvorschriften und Praktiken vorgesehen sind. An anderer Stelle wird der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Sozialversicherung oder auch Erziehung erwähnt; insgesamt wird aber auf die Notwendigkeit verwiesen, das nationale Recht der Mitgliedstaaten zu wahren.
- die Unionsbürgerschaft: mit einem Verweis auf die im EU-Vertrag vorgesehenen Rechte sowie auf die spezifischen Artikel über das Recht auf eine gute Verwaltung und den Zugang zu Dokumenten der EU-Institutionen.
- die Justiz: mit einem Hinweis auf die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, insbesondere was das Recht auf einen gerechten Prozess betrifft.
Gültig nur bei Umsetzung des Gemeinschaftsrechts
Die allgemeinen Bestimmungen erinnern daran, dass die in der Charta genannten Rechte die Kompetenzen der Union nicht ändern können, und dass sie für die Mitgliedstaaten nur bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts Vorschrift sind. Die Charta hat vor der EMRK nur dann Vorrang, wenn sie höheren oder ausgedehnteren Schutz garantiert.
Erster Kritik an der mangelnden Berücksichtigung sozialer Grundrechte war der Entwurf bereits ausgesetzt, aber die heiße Phase der Diskussion steht noch bevor. Frühestens Nizza wird zeigen, welche Grundrechtscharta die Union erhält.
Dr.Harald Trettenbrein ist Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Vertretung der EU-Kommission in Österreich