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"Gitti, Wolfi, schaut’s her!"

Von Eva Stanzl

Wissen
Privatvideos, hier von der Hochzeit am Standesamt, sollen historische Lücken schließen.
© Sammlung Bilonoha

Alltagsforschung: Die Wiener Mediathek veröffentlicht 500 Amateurfilme aus 80er und 90er Jahren.


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Wien. "Gitti, Wolfi, schaut’s her einmal!" Mit diesen Worten will eine hörbar ältere Dame die Kinder, die sie filmt, dazu animieren, sich in Pose zu werfen. Nicht alle ließen dieses Ritual gerne über sich ergehen. Doch die Ergebnisse interessierten sogar abendfüllend.

In den 1980ern und 1990ern waren Amateurfilmer vom Video-Fieber erfasst. Tragbare Videokameras ermöglichten es erstmals jedem, alles, was gefiel, günstig in Ton und Bild aufzuzeichnen - und herzuzeigen. Bei Videoabenden sah man dem Hochzeitspaar beim Warten am Standesamt und den Kindern im Zoo bei den Eisbären zu. Man konnte mit den Augen des Hobbyfilmers verfolgen, wie im Tennisfinale des Sohnes der Ball hin- und herging und wie ein Flugzeug der AUA in London-Heathrow landete.

Die digitalen Medien haben Videokameras überholt. Eine Reise in die Vergangenheit bietet allerdings nun die Österreichische Mediathek des Technischen Museums Wien (TMW) an. Sie hat 3000 Stunden Videomaterial aus 2000 Videos digitalisiert, die von Privatpersonen eingereicht wurden. 500 Clips sind nun online abrufbar. "Wiener Video Rekorder" nennt sich das vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF) mit 295.000 Euro unterstützte Forschungsprojekt. In den vergangenen drei Jahren wurde Material eingereicht, gesichtet, restauriert, digitalisiert und in einem Format abgespeichert, das zur Langzeit-Archivierung geeignet ist. Ein Stück Alltagskultur sollte vor dem nicht zuletzt materialbedingten Verfall gerettet und der Allgemeinheit und der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht werden.

"Privatsammlungen finden nur schwer den Weg in öffentliche Archive", erklärte Projektleiterin Gabriele Fröschl vor Journalisten bei der Präsentation der Arbeiten am Freitag. In öffentlichen Erinnerungen würden bestimmte Themen und Erlebnisse zu kurz kommen, "wir wollten diese Lücke schließen". "Sozial- und Geisteswissenschaften können nicht betrieben werden, wenn die Dokumentation nicht vorhanden ist. Viele Archive und Bibliotheken haben nicht die Mittel, um sich als wissenschaftliche Einrichtungen auszuleben, wir haben uns daher für dieses Projekt entschieden", erklärte WWTF-Chef Michael Stampfer.

Die Videos zeigen, was Menschen offenbar wichtig war und ist. An erster Stelle steht das persönliche und familiäre Umfeld, gefolgt von Freizeitaktivitäten, Festen und Feiern und schließlich Reisen. Die Menschen filmen, was sie in ihrem Leben als Höhepunkte empfinden. Auch Arbeitsleben, Sportereignisse, öffentliche Aktivitäten, Demonstrationen, Kulturveranstaltungen, Amateur-Dokus und die Bundeshauptstadt aus der Sicht von Migranten finden sich im "Wiener Video Rekorder".

Enkel, Reisen und Politik

So berichtet ein Spanier über das Stadtbild in Hietzing, "oftmals wurde so etwas gemacht, um es nach Hause zu schicken", so Fröschl. Andere Videos wollen eine Gegenöffentlichkeit schaffen - etwa hielten Aktivisten 1983 die Räumung des selbst verwalteten Zentrums "Gassergasse" auf Band fest, um der öffentlichen Berichterstattung ihre Sicht entgegenzuhalten. Unter den Reiseberichten findet sich eine Führung durch den Baal-Tempel in der antiken Stadt Palmyra in Syrien, der heute nicht mehr besucht werden kann, da er von Terroristen des IS dem Erdboden gleichgemacht wurde. Nicht zuletzt weil das Archiv eine Reise in eine Welt ist, die es nicht mehr gibt, lohnt es sich, unter www.wienervideorekorder.at hineinzuschauen.

Die Videofilmerin Margareta Veit begann schon in den 1950er Jahren, Familie, Freunde, Reisen, Feste und Musikauftritte und zu filmen. "Am Anfang waren viele das nicht gewohnt und drehten sich weg. Aber bei Hochzeiten kamen sie mir nicht aus!", lacht die schöne ältere Dame mit den lockigen Haaren im Rahmen der Präsentation. Der Umstieg auf die Videokamera "war ein großer Entschluss". Doch einer, der sich lohnte: "Ich habe alle meiner neun Enkel auf Bild und Ton", berichtet Veit, deren Film über die neue Besucherterrasse am Flughafen Wien-Schwechat aus 1960 heute Teil des TMW-Archivs ist. Doch Veit geht mit der Zeit und filmt auch digital: "Meine Enkel haben mir ein Handy mit einer Riesen-Speicherkarte beschenkt. Ich bin bei 9000 Fotos und 450 Videos."