Wie bei einem "Zuagrasten" die Liebe zu Wien entflammte.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Am liebsten ist mir Wien von oben. Da kommt Emotion, ja Sentimentalität auf. Da, inmitten der Weinberge, zwischen dem unendlichen Wienerwald, der die Ausdehnung der Stadt scharf begrenzt, und dem riesigen Häusermeer ist die Besonderheit der Stadt für mich besonders zu spüren. Da wächst Stolz, dass ich jetzt 45 Jahre hier lebe.
Immer, wenn Freunde von außen kommen, dann drängt es mich, mit ihnen auf den Leopoldsberg zu steigen oder zum Cobenzl zu fahren, um gemeinsam auf die Stadt hinunterzuschauen. Oft mündet es in ein Spiel wie beim Anschauen eines Wimmelbuchs: Wo ist der Prater mit dem Riesenrad oder der Stephansdom? Oft bleibt es auch bei einer simplen Betrachtung: So schön ist die Stadt an der Donau.
Meine Liaison mit Wien ist in mancherlei Hinsicht die einer ganzen Generation, die, historisch betrachtet, viel Glück hatte. So wie Zehntausende bin ich aus einem der anderen österreichischen Bundesländer nach Wien zugezogen. Es gab zwar auch Zeiten, da mühte ich mich mit der Stadt ab, aber in der Regel fühlte ich mich willkommen, verwöhnte mich die Stadt mit ihrer Weltoffenheit. Für jemanden, der Theater, Musik oder das Kino zum Leben braucht, war und ist Wien ein idealer Ort.
Mittlerweile bin ich in der Stadt richtiggehend heimisch geworden, fühle mich wohl im Bezirk. Ich bin dankbar für die Freundschaften, die entstanden sind. Wenn ich an Sonntagen im Wienerwald herumstapfe oder auf Rax/Schneeberg emporsteige, dann mengt sich zur Begeisterung über die viele frische Luft noch jene über die besondere Topographie des Wiener Umlands.
Ärgerliches "Bashing"
Als Zuagraster bin ich in meiner Zuneigung gegenüber allen Anfechtungen gefestigt, wahrscheinlich mehr als die gebürtigen Wiener, die in ihrer Empfindsamkeit zwischendurch immer todunglücklich über ihre Stadt sein müssen. "Das Problem für jeden Wiener: Man kann es in Wien nicht mehr aushalten, aber woanders auch nicht" (Helmut Qualtinger).
Historisch gesehen, sind mir die Schmähungen verständlich: Wien ist mit seinen Bewohnern nicht immer freundlich umgegangen. Aber in der Gegenwart, in der Wien regelmäßig zu einer der lebenswertesten Großstädte gekürt wird, scheint mir die Popularität des Wien-Bashing peinlich bis ärgerlich. In meiner oberösterreichischen Herkunftsgemeinde treffe ich Leute, die, wenn sie hören, dass ich in Wien lebe, fast erstarren, weil sie fest daran glauben, dass Wien der gefährlichste Ort Österreichs (Kriminalität, Flüchtlinge, Drogen) ist.
Zurück in Wien, finde ich nicht nur zu Wahlkampfzeiten befremdlich, dass sich eine Stimmung der Spaltung zusammenbraut, weil Wien eine Zuwandererstadt ist. Dabei vergisst man, dass Wien diesbezüglich auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken kann: 150 Jahre lang hatten und haben Mi-granten stets einen kräftigen Anteil am Gedeihen der Stadt.
In meiner Kindheit und Jugend lag Wien in der gefühlten Distanz sehr weit weg. Die Eltern kamen gar nie auf die Idee, ohne Anlass nach Wien zu fahren. Zugfahren galt als teuer. Und selbst dann, wenn es Gründe gegeben hätte, lag eine mentale und geographische Barriere dazwischen.
Wenn mein Vater in den 1950er Jahren zwei- oder dreimal mit der Bahn nach Wien fuhr, dann waren es allein geschäftliche Gründe, die ihn dazu zwangen. Auf die Idee, uns Kinder einmal Wien zu zeigen, kam er erst gar nicht. In den 1960er Jahren blieb ein Familienausflug dorthin, obwohl wir damals schon ein Auto hatten, jenseits aller Denkmöglichkeiten. Tirol ja, Wien nein.
Die sogenannte "Wien-Woche" bedeutete für die meisten oberösterreichischen Schüler die erste Gelegenheit, Wien kennenzulernen. Keine Ahnung, wieso unsere Klasse nicht an dieser Aktion teilnahm. Mein erster Wien-Besuch ging auf meine eigene Initiative zurück; ich war siebzehn Jahre alt, als ich einmal während einer Ferienwoche einen gleichaltrigen Wiener kennenlernte, mit dem ich mich anfreundete, Briefe austauschte und der mich nach Wien einlud.
Fremder Kontinent
Ostern 1969 war es so weit. Wien mutete wie ein fremder Kontinent an. So viele Häuser! Und dann noch die endlos langen Straßenbahnfahrten, da der Freund in Rodaun wohnte. Eine gewisse Unsicherheit, ob man denn in die richtige Richtung unterwegs sei, war nicht abzuschütteln. Zu den ersten optischen Eindrücken gehörten die riesigen, befremdlichen Gemeindebauten; noch nie hatte ich dergleichen gesehen. Der Nimbus der großartigen Kulturstadt hatte bereits Eindruck auf mich gemacht. Ich war begeistert, dass Herr Kurt, der Rezeptionist im Hotel "Ambassador", der zur Sommerfrische nach Oberösterreich kam, mir anbot, Opernkarten zu beschaffen. Der Einstieg über den fünfstündigen "Parzival" ergab allerdings eine harte Landung.
Ende der 1960er Jahren irritierte nicht nur mich, wie finster und dunkel sich das kaiserliche Wien präsentierte. Von Glorie keine Spur. Die Fassaden schmutzig und grau. Auch das eine Ursache, dass die westösterreichischen Bundesländer mit ihrer Hauptstadt fremdelten und sie mieden.
Oberösterreich gravitierte nach dem schmucken, neureichen München, viele arbeiteten in diesen Boomjahren in Bayern. Nicht weiter verwunderlich bei dieser Stimmungslage, dass ich mich bei der Wahl des Studienplatzes für Salzburg entschied. Den Eltern war es auch recht, dass ich der Großstadt fernblieb.
Die Universität Salzburg war in den 1960er Jahre gegründet worden, der Lehrbetrieb war vom Aufbruchsgeist dieser Jahre erfüllt. Viele Professoren und Assistenten kamen aus Wien. Vorträge von Philosophen wie Karl Popper oder Paul Feyerabend oder Gastprofessuren wie die des Sexualforschers Ernest Bornemann erweiterten unsere Sicht; Schriftsteller aus Wien - ich erinnere mich lebhaft an Ernst Jandl und Christine Nöstlinger - waren in der "Leselampe" zu Gast.
Es war auch die Zeit, als sich weltweit das Interesse am Wiener Fin de siècle formierte und Exponenten der illustren Geister, die der Nationalsozialismus vertrieb, nach Salzburg eingeladen wurden. Die Lesung von Elias Canetti bescherte ein großes Erlebnis. Auch bei der Lektüre von Arthur Schnitzler, Stefan Zweig oder Karl Kraus drehte sich mein Wien-Bild. Das geistige Wien begann mit Anziehungskraft zu strahlen. Die Neugierde stieg, mich auf diese so anziehende, so abweisende Metropole einzulassen und mich an den Besonderheiten Wiens zu begeistern.
Wien exotisch
Als ich im Mai 1975 erstmals zu einem einmonatigen Aufenthalt aufbrach, war ich innerlich vorbereitet, auch die raueren Seiten der Stadt zu genießen. Ein Freund stellte mir seine kleine Bassena-Wohnung in einem riesigen Brigittenauer Wohnhof zur Verfügung. Wenn ich das Wasser auf dem Gang holte, es mit der gusseisernen Kanne in das Lavoir goss und das Klo am Gang mit den anderen Parteien am gleichen Stock teilte, so fand ich dies genauso exotisch wie das wunderbare "Inundationsgebiet" (Überschwemmungsgebiet, Anm.), das ich über die Eisenbahnbrücke schnell erreichen konnte. Fußballspielen in dieser nur partiell zivilisierten Wildnis war prima.
Ich staunte nicht schlecht, dass damals das (auch heute noch großartig aufkochende) Wirtshaus in der Nähe des Allerheiligenplatzes noch am späteren Abend von einer gar nicht so kleinen Schar von Frauen frequentiert wurde. Bei Gelegenheit wurde dort auch tschechisch parliert und gesungen. Gemeinsames Fernsehen erwies sich als Gaudium, weil ein nicht nur trink-, sondern auch sprechfreudiges Publikum das aktuelle politische Zeitgeschehen mit viel Schmäh kommentierte.
Ich begeisterte mich an den wundervollen Besonderheiten der Wiener Sprache. Die Beschimpfungen in der Straßenbahn fanden in mir einen aufmerksamen Zuhörer, ich konnte gut nachvollziehen, wenn den deutschen Schriftsteller Horst Krüger einmal die zehn sehr unterschiedlichen Bedeutungen des simplen Wortes "Bitte" im Wienerischen begeisterten. Als 1975 der ORF die Serie "Ein echter Wiener geht nicht unter" startete und sich daraufhin halb Österreich über das ordinäre, derbe Wien empörte, war ich in der Bewertungsschlacht als Neo-Wiener auf der Seite derjenigen, die sich an den "Mundl"-Sagern einfach erfreuten.
Geschult an H. C. Artmann, verstand ich die Wendung "Ottakringer Blech" (für die Bierdose der Bezirksbrauerei) als reine
Poesie. Wien - das bedeutete Ambivalenz, Ironie, Sarkasmus und Freude an Wortfindungen und am Wortspiel.
Mein vierwöchiges Gastspiel bot auch die Gelegenheit, erstmals in die Wiener Theaterszene einzutauchen. Die Wiener Festwochen, die damals bereits die Arena im aufgelassenen Schlachthof St. Marx bespielten, waren ein Highlight. Jerome Savarys Revue "Le Grand Magic Circus", ein wilder Ritt durch die Weltgeschichte von Moses bis Mao, führte vor Augen, wie sich abseitige Räume nutzen ließen, wie Zuschauer in Akteure verwandelt werden konnten. Es war ein begeistert aufgenommenes Beispiel, wie die Kultur ihre institutionalisierten Grenzen sprengte und den wilden Charme der aufgelassenen Fabriken und vor sich hin dümpelnden Säle entdeckte.
Als ich im Herbst 1975 dauerhaft nach Wien übersiedelte, erlebte ich mit, wie eine neue Generation in den Startlöchern scharrte, die eine deutliche Antwort auf die kulturelle Enge und lebensweltliche Normierung, auf Stadtflucht und urbane Verödung geben wollte. Ein wahres Gründungsfieber bestimmte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre alle Künste. Unzählige Initiativen machten Wien zu einem üppigen Jahrmarkt der politischen Debatten. Die Stadt lebte auf.
Im Pathos dieser Jahre ging es um nichts Geringeres als um eine neue Lebensweise, um die Wiederherstellung kleinteiliger Mi-lieus, um die Verankerung der Künste im Alltagsleben, um eine Gegenwelt zu Spekulation und schneller Verwertung. Leerstehende Gebäude wie das WUK wurden für Offene Werkstätten gekapert, in den Vorstädten nistete sich eine neue Lokalszene ein.
Wien wurde bunter, kontroverser, rebellischer. Gleichgesinnte und Verbündete fanden sich zusammen und beanspruchten selbstbewusst Platz im öffentlichen Raum. Die autonome Frauenbewegung machte sich mit ihren Forderungen lautstark bemerkbar. Die Proteste gegen das AKW Zwentendorf (Volksabstimmung 1978) und später gegen das Donaukraftwerk Hainburg (1983) bildeten den Nährboden für eine Grün-Bewegung. 1979 wurde Helmut Zilk zuerst Kulturstadtrat, später Bürgermeister; er sah die Chance, dass sich die Stadt mittels Kulturalisierung ein neues Image verpassen und zugleich die drängende Jugend in die Stadtentwicklung einbinden könnte.
Kulturkampf
Diese Neuerfindung Wiens war auch die Folge eines Kampfes, der die Stadt spaltete und in die Schlagzeilen brachte. Am 27. Juni 1976 wurde nach der letzten Festwochen-Vorstellung die Arena besetzt und zum autonomen Zen-trum erklärt. In den folgenden 101 Tagen rollte ein gigantisches Kulturprogramm ab, prominentester Performer war Leonhard Cohen. Nahezu die gesamte österreichische Kulturszene wollte mit dabei sein. An den Wochenenden strömten zehntausende junge Leute in den dritten Bezirk. Nächtens affichierten wir Plakate. Trotz allen Engagements, trotz aller Aufregung wurde im Herbst der Verkauf des Geländes und der Abriss der Gebäude im Gemeinderat beschlossen. Aber damit war der kulturelle Aufbruch nicht zu Ende, sondern fing erst so richtig an.
Die Anziehungskraft Wiens rührte auch daher, dass sich die Stadt für "Provinzler" als ein guter Arbeitsort erwies. Wo anderswo für kreative Geister selbst eine bescheidene Etablierung ausgeschlossen war, taten sich in der Großstadt Nischen auf. Für diejenigen, die sich nicht in Hierarchien binden wollten, gab es Projekte, gab es Gelegenheitsjobs.
Für jene, die ihr Studium bereits abgeschlossen oder auch eine Familie gegründet hatten und ein regelmäßiges Einkommen brauchten, gab es sogar richtige Stellen zu besetzen. Gut ausgebildete junge Leute aus allen Bundesländern fanden Platz auf dem Wiener Arbeitsmarkt. Auch viele meiner Studienkollegen aus Salzburg kamen in dieser Zeit nach Wien.
Die Hauptstadt erwies sich auch als attraktiver Ort zum Wohnen. Das Rote Wien mit seinen Gemeinde- und Genossenschaftsbauten hatte dafür gesorgt, dass Wohnen im Städtevergleich einzigartig günstig blieb. Der Mieterschutz verhinderte, dass die Mieten in den Altbauten in die Höhe schossen. Während es die Wiener in die modernen Siedlungen an den Stadträndern zog, begeisterten sich die jungen Leute an den großen Wohnungen in den inneren Bezirken, die für Wohngemeinschaften bestens geeignet waren. Wer wenig Geld hatte, allein wohnen wollte und über dürftige Sanitäranlagen hinwegsehen konnte, fühlte sich mit billigen Kleinquartieren in alten Substandardhäusern gut bedient. Für diejenigen, die die Rückzahlung von Krediten nicht scheuten, kam sogar der Kauf einer der günstigen Altbauwohnung in Frage. Aus heutiger Perspektive mutet der damalige Wohnungsmarkt wie ein Goldenes Zeitalter an.
Schon in den 1970er Jahren behaupteten Stadtforscher, dass Wien mit seiner Rückständigkeit einen ungeheuren Vorteil in der Stadtentwicklung besaß. Die Grenzlage im geteilten Europa brachte mit sich, dass für eine Modernisierung nicht das große Geld vorhanden war. Rückständigkeit war eine Voraussetzung für eine lebenswerte Stadt. Stadtreparatur statt Stadterweiterung.
Erst nach der Ostöffnung 1989 und dem EU-Beitritt wurde dies anders. Wien wuchs wieder, im jüngsten Jahrzehnt sogar ziemlich schnell. Wien konnte wieder anschließen an seine alte Rolle als mitteleuropäisches Scharnier. Viel frisches Geld floss hierher, österreichische Firmen bedienten von Wien den osteuropäischen Markt. Die Stadt wurde hübscher, sauberer, moderner - und internationaler. Wien bekam Hochhäuser. Neue Stadtteile mussten gebaut werden. Das Dienstleistungsgewerbe erlebte Höhenflüge. Viele neue (auch viele billige) Jobs entstanden. Im 20. Jahrhundert strömten kontinuierlich pro Jahr etwa 10.000 Zuzügler aus den Bundesländern nach Wien, im neuen Jahrhundert wurden es noch mehr. 17 Prozent der Bevölkerung stammen heute aus Niederösterreich & Co.
Die historische Tristesse der Monumentalbauten bekam mit neuem Anstrich den Glanz zurück, die Wohnhäuser mit bröckelnden Fassaden wurden weniger. Das Wiener U-Bahnnetz, zu einem der besten in Europa ausgebaut und mit dem 365-Euro-Ticket konkurrenzlos billig, machte dem Auto erfolgreich Konkurrenz.
Dorf in der Stadt
Der Städtetourismus entdeckte die Donaumetropole mit der hohen Lebensqualität und befand sie mit ihrer Vergangenheit, ihrer überkommenen Pracht und mit ihrer Lokal- und Kulturszeneultracool. Der Kulturbereich bekam mit dem Museumsquartier ein neues Highlight.
Aber trotz schneller Modernisierung konnte sich Wien viel vom Großstadt-Dorf, das es immer war, erhalten. Es gibt weiterhin die "Orte vom guten Leben" inmitten der Stadt für alle: Das Gänsehäufel funktioniert noch genauso wie vor 45 oder 100 Jahren. Aber bleibt Wien Wien (was für manche eine Drohung ist)? Meiner Wienbegeisterung schadet die Widersprüchlichkeit nicht. Vielleicht ist es das Alter, vielleicht der Sommer, die mich, den Wiener mit österreichischem Migrationshintergrund, mit Wien so versöhnlich und entspannt stimmen, vielleicht auch die seltsamen Zumutungen der Corona-Zeit.
Alfred Pfoser, geboren 1952 in Wels, Historiker, Schriftsteller, Bibliothekar. Zuletzt sind folgende Bücher erschienen:
"Meine angebetete Louise! Otto Wagner: das Tagebuch des Architekten 1915-1918" (gem. hrsg. mit Andreas Nierhaus, Residenz 2019)
"Die erste Stunde Null. Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918-1922" (gem. mit Andreas Weigl, Residenz 2017).