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Gläserne Erinnerungen zerbrechen leicht

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Wir benützen heute wie selbstverständlich Navi-Geräte im Auto oder zoomen uns im Internet Bilder ferner Städte heran. Aber was hat das mit dem Dom von Wetzlar zu tun?


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Die Geschichte beginnt im Wetzlar des Jahres 1858. Der 24-jährige Absolvent des königlichen Gewerbe-Instituts Berlin, ein gewisser Albrecht Meydenbauer (1834-1921), wird in die hessische Stadt beordert, um dort den Dom professionell zu vermessen. Bei den Messarbeiten am Südturm des Wetzlarer Wahrzeichens stürzt er beinahe aus 25 Metern Höhe ab. Dieser Schock veranlasst ihn nachzudenken, ob es weniger gefährliche Alternativen zum Messen direkt am Objekt gebe.

Da kommt ihm die Idee, dass man einen Bau wie den Dom ja auch fotografisch abbilden und dann die Perspektive auf dem Bild einfach auf die Wirklichkeit zurückrechnen könnte. Immerhin ist die Photographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts technisch so weit entwickelt, dass man einigermaßen zuverlässige Berechnungen über die tatsächlichen Entfernungen markanter Punkte anstellen konnte. Fieberhaft beginnt der junge Techniker Albrecht Meydenbauer, eigens für solche Architekturaufnahmen Messkammern zu entwickeln.

Das Messbild-Verfahren war erfunden und mit ihm auch der bis heute gültige Name: Photogrammmetrie. Kurz zuvor hatte der französische Offizier Aimé Laussedat die Fotografie bereits bei der Landvermessung eingesetzt und mit seiner Metrophotographie nicht zuletzt das Interesse der Militärs erweckt. Der Vater der Architekturphoto-

grammetrie ist und bleibt jedoch Meydenbauer.

Das anerkannte man auch in Berlin und gründete 1885 die Königlich Preußische Messbild-Anstalt für Denkmal-Aufnahmen, die Meydenbauer bis 1909 leitete. Sie war weltweit das erste Institut dieser Art und fand ihr Domizil in der von Schinkel errichteten Bauakademie im Zentrum Berlins. Endlich konnten (Architektur-)Zeichnungen ohne die üblichen Messfehler und individuellen "Färbungen" der jeweiligen Zeichner angefertigt werden. Eine gleichsam objektive Bestandsaufnahme war möglich.

Meydenbauer´s Messkammern waren zugleich Fotoapparate und exakte Winkelmessinstrumente. In einer mit schwarzem Stoff ausgeschlagenen hölzernen Transportkiste befanden sich der Apparat, die Objektive mit Brennweiten von 20 oder 30 cm und quadratische Glasplatten mit einer Seitenlänge von 30 cm. Sie erzeugten Bilder, die - zusammen mit den technischen Notizen bei der Aufnahme - zu einem späteren Zeitpunkt ausgewertet und in Zeichnungen umgesetzt werden konnten. Auch dann, wenn das fotografierte Bauwerk bereits vernichtet war.

Obwohl der Pionier sein Hochziel nicht erreichte, ein Archiv aller deutschen Denkmäler zu errichten, so waren 1920, ein Jahr vor Meydenbauers Tod, immerhin mehr als 2500 architektonisch wertvolle Objekte im In- und Ausland auf rund 20.000 Glasplatten aufgenommen.

Zum Teil lebt diese Sammlung bis heute weiter. Nach einer wechselvollen Kriegsgeschichte befindet sich die von Meydenbauer angelegte Sammlung von Messbildern heute in Wünsdorf, einem Ort südlich von Berlin, und wird vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege verwaltet. Im Messbildarchiv befinden sich heute über 100.000 historische Aufnahmen von bestehenden und von inzwischen zerstörten Bau- und Kunstdenkmalen.

Der Mann, der so viel Schönes für die Nachwelt festgehalten hat, ist zwar beinahe vergessen; aber viele Rekonstruktionen zerstörten Kulturgutes zeugen nach wie vor von seinem Genie. Leider sind selbst seine gläsernen Erinnerungen gleichfalls dem langsamen Verfall preisgegeben.

Was bleibt? Meydenbauer war einer der Pioniere, denen wir heute die Vermessung der Welt - und da-

mit ihre Vernetzung verdanken.