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"Glaube nicht an EU-Austritt der Briten"

Von Teresa Reiter

Politik
"Die Stimme der City gegen den EU-Austritt ist so laut, wie wir sie machen können."
© Reiter

"City"-Insider Mark Boleat spricht darüber, wie die Austrittsdebatte in Londons Finanzzentrum wahrgenommen wird.


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"Wiener Zeitung": Welche Auswirkungen könnte ein britischer EU-Austritt auf den Finanzsektor des Landes haben?Mark Boleat: Als guter Politiker muss ich sagen, dass wir nicht glauben, dass Großbritannien die EU verlassen wird. Der Grund dafür, dass wir uns das wünschen, sind die negativen Auswirkungen auf die britische Wirtschaft im Allgemeinen, der Finanzsektor wäre nur ein Teil davon. Natürlich wäre es ein Nachteil für die Briten, keinen direkten Zugang zum europäischen Binnenmarkt mehr zu haben.

Wie könnte dieser Nachteil aussehen?

Das würde von den Konditionen abhängen, auf die man sich nach einem Austritt (mit der EU, Anm.) einigt. Wir wissen, dass London immer noch ein weltführendes Finanzzentrum wäre, egal ob Großbritannien in der EU ist oder nicht. Wenn wir keinen uneingeschränkten Zugang mehr zum Binnenmarkt hätten, würden wir zweifellos Geschäfte an andere europäische Länder verlieren.

Chris Cummings, Chef der Mitgliedervereinigung TheCityUK sagte, dass im Falle eines Austritts manche Firmen Europa vielleicht ganz verlassen könnten und ihren Sitz in die USA oder nach Asien verlegen. Halten Sie das für eine realistische Möglichkeit?

Große internationale oder nationale Banken, die ihren europäischen Hauptsitz in London haben, verfügen oft auch über Büros in Dublin oder Frankfurt oder anderen Städten. Sie alle treffen immer wieder Standortentscheidungen. Es geht dabei auch um Miet- und Pachtverträge. Jedes Mal wenn diese auslaufen, überlegt die Firma neu, ob dies wirklich der Ort ist, an der sie sein möchte. Solche Entscheidungen wären klarerweise von der EU beeinflusst.

Inwiefern?

Jeder Unternehmer, der diese Entscheidung jetzt trifft, muss sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Großbritannien die EU verlassen könnte. Man muss das trotz der geringen Chance, dass das wirklich passiert, miteinberechnen, denn natürlich würde es blöd aussehen, wenn man 500 Millionen Pfund in ein neues Firmengebäude investiert und plötzlich befindet man sich mit diesem außerhalb der EU und hat keinen uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt mehr.

Was ist mit den Notfallsplänen amerikanischer Banken, die seit einigen Wochen durch die Medien geistern?

Wenn es sicher wäre, dass es ein Referendum gibt, was es nicht ist, obwohl das anscheinend jeder in Europa glaubt, dann würde diese Frage sofort enorm an Bedeutung gewinnen. Wenn es tatsächlich dazu käme, dann müssten große Firmen Notfallpläne entwickeln. Sie wären dumm, das nicht zu tun. Ein Referendum kann immer schiefgehen. Amerikanische Banken haben bereits davon gesprochen, dann nach Dublin zu übersiedeln. Paris könnte für einige eine Option sein, Frankfurt würde offensichtlich enorm an Geschäften gewinnen, denn auch die Europäische Zentralbank hat dort ihren Sitz.

Die meisten Firmen würden Ihrer Meinung nach in Europa bleiben?

Gehen wir einmal von dem Katastrophenszenario aus, dass Großbritannien die EU verlässt - was ich nicht glaube. Dann würden wir wohl eine Menge unserer Geschäfte an New York verlieren. Warum sollte Goldman Sachs schließlich seine europäischen Geschäfte von London aus führen, wenn es nur für den britischen Markt ist? Firmen wie Goldman würden vielleicht ihren Londoner Sitz aufgeben, den Hauptsitz in New York haben und vielleicht noch ein bisschen in Frankfurt oder Dublin aufstocken.

Goldman Sachs ist ein interessanter Fall, denn es war die erste große Bank, die damit drohte, London zu verlassen, bis es schließlich vor ein paar Wochen hieß, man verfolge keinerlei Pläne in diese Richtung . . .

Ich kenne die Goldman-Leute sehr gut und ich glaube nicht, dass sie gedroht haben, London zu verlassen. Ich glaube, sie haben gemeint, dass London zwar ein großartiger Ort für ihr Personal ist, aber der Hauptgrund für den Sitz dort ist der Zugang zum Binnenmarkt. Wenn also Großbritannien die EU verlassen würde, würden sie diesen Sitz zwar nicht aufgeben, aber Teile ihres Geschäfts von anderen Standorten aus abwickeln. Sie würden London nie verlassen. Interessant ist, dass Goldman ein riesiges neues Bürogebäude in London plant.

Würden Sie das als Zeichen des Vertrauens werten?

Sie haben noch nicht den Startschuss dafür gegeben, weil es immer noch ein paar Probleme mit der Planung gibt.

Unterstützt das Gerede der Banken über mögliche Umzüge nach Dublin nicht noch den Eindruck, dass es sicher zu einem Referendum kommen wird und dass Großbritannien die EU verlassen wird?

Dublin ist für Unternehmer sehr attraktiv. Es ist nicht so weit hergeholt zu sagen, dass die Stadt in den nächsten Jahren einen Zuzug von Unternehmen erleben wird. Das muss gar nichts mit einem möglichen Referendum zu tun haben. Ein Sitz in Dublin würde zum Beispiel bedeuten, die Komplikationen des britischen Visasystems umschiffen zu können.



Verschiedenen Studien zufolge wünschen sich dennoch die meisten Unternehmen mit Sitz in der City, dass Großbritannien in der EU bleibt. Doch viele sehen eine große Herausforderung in EU-Regulierungen . . .

Die normale Reaktion von Unternehmen auf die EU ist diese: Man darf in Großbritannien nicht von Regulierungen sprechen, ohne das Wort "europäische" davorzusetzen. Denn alle Regulierungen kommen aus der EU, sogar die, die nicht von dort kommen, verstehen Sie? Viele kleinere Firmen fühlen sich von diesen gefesselt. Wenn man sie nach Beispielen fragt, sagen sie dann so etwas wie "Mindestlohn", was nichts mit Europa zu tun hat. Ich leite das Handelsorgan "Gangmasters", eine Art Agentur der Labour Party, die Einwanderung und Zuweisung von Gastarbeitern in Großbritannien reguliert. Wenn ich heute auf unsere Arbeit dort zurückblicke, dann gibt es vor allem zwei Probleme mit Regulierungen, die wir immer wieder hatten. Erstens das "Accession State Worker Registration Scheme", eine rein britische Erfindung. Und zweitens gab es immer wieder Schwierigkeiten mit dem nationalen Mindestlohn. Es ist ein Problem, dass viele nicht wissen, welche Richtlinien von der EU kommen und welche nicht.

Wieso ist die Stimme der City in der Debatte um den EU-Austritt dann nicht lauter?

Sie ist so laut, wie wir sie machen können. Ich nutze jede Gelegenheit, die sich mir bietet, um darüber zu sprechen, und es gibt auch andere, die das tun. Seit die Geschäftswelt begonnen hat, sich dazu zu äußern, hat sich fast nichts an den Ergebnissen der Meinungsumfragen geändert. Der Effekt ist gleich null. Es gibt diese Ansicht, dass, wenn die Unternehmer innerhalb der EU bleiben wollen, das nur schlecht für alle anderen sein kann. Bankers for Europe? Na, ich weiß nicht.

Zur Person

Mark Boleat

ist der Vorsitzende des Policy and Resources Committee der City of London Corporation, der Verwaltungsbehörde von Londons Finanzbezirk "The City". Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach.