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Glauben können wollen

Von Judith Belfkih

Reflexionen

Vom Nutzen und Nachteil der Religiosität für unser Leben.


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Glauben. An einen Gott, der alles zum Wohle seiner Kinder regelt. Der es gut mit ihnen meint. Einer, der streng wacht und richtet. Aber dennoch gütig ist. Verzeihend, großherzig, gerecht. Nach dem Tod ein Leben im Paradies. Vielleicht nicht mit fließend Milch und Honig. Ewiger Frieden täte es auch.

Christentum, Judentum und Islam: In Europa nimmt die Zahl der Nicht-Gläubigen schneller als alle Weltreligionen zu - trotz des stetigen Wachstums der muslimischen Bevölkerung.
© Judith Belfkih

Die meisten Vertreter der Generation X glauben nicht an Gott. Weder an einen christlichen noch einen jüdischen, muslimischen oder anderswertigen. Haben es nie getan. Und nicht wenige von ihnen bedauern das. Zumindest manchmal. Doch Glauben lässt sich nicht wie mit einem Lichtschalter anknipsen. Einige von ihnen blicken neidisch auf ihre religiöse Großmutter. Sehen den Halt, den ihr der Glaube gibt. Die Fragen, die sie sich nicht stellen muss. Die Zufriedenheit, die sie im Gebet, in der Kirche findet. Den Sinn, den ihr langes und nicht immer einfaches Leben dadurch hat. Oder auf einen ihrer vielleicht muslimischen oder jüdischen Freunde, wenn er mit strahlenden Augen vom Vertrauen spricht. Darin, dass wer ewig strebend sich bemüht, mit Erfolg und Glück belohnt sein wird. Dass Gott groß und gerecht ist, und niemanden vergisst.

An etwas glauben zu können, ist eine Gabe. Eine durchaus wertvolle. Sie bedeutet Zuversicht, Vertrauen, Eingebunden-Sein in ein höheres Sein. Diese Gabe nicht oder nicht mehr zu besitzen, bedeutet Gewinn und Verlust zugleich. Für den Einzelnen und für die Gesellschaft, in der er lebt.

Als Exot gilt, wer sich zum Glauben bekennt

Denn trotz des stetigen Wachstums der muslimischen Bevölkerung Europas gibt es eine Gruppe, die in den vergangenen Jahrzehnten noch rasanter gewachsen ist und nach wie vor wächst. Und die in manchen Teilen Europas mittlerweile alle Religionsgruppen überholt hat - die der Nicht-Gläubigen.

In vielen Kreisen gilt heute als Exot, wer sich zum Glauben bekennt. Nicht religiös zu sein, ist längst die Norm. Der Glaube ist beinahe suspekt. Und die mit dem Glauben verbundenen religiösen Rituale verlangen nach Rechtfertigung. Vor der Gesellschaft, vor dem Staat, vor dem Rechtssystem. Der Vormarsch des Nicht-Glaubens hat Europa mehr verändert als alle Frauen mit Kopftuch oder beschnittene Jünglinge zusammen. Und durch diese wachsende Gruppe ist die gesellschaftliche Ordnung nicht minder im Umbruch. Die jüngsten Debatten um Schleier und Vorhaut zeigen, in welche Richtung Europa diesbezüglich geht: Religiöse Symbole, Handlungen und Traditionen werden immer mehr infrage gestellt.

Klare Antwort für Fragen nach dem Sinn des Lebens

Der Glaube verbindet. Nicht umsonst sind Menschen "im Glauben vereint", sind Teil einer "Gemeinschaft" und definieren sich über ihre "Religionszugehörigkeit". Religion schafft einen gemeinsamen Bezugspunkt, kennt meist einen gemeinsamen Feind, vermittelt ein Gefühl von Zusammenhalt und definiert einen allgemeinen Verhaltenskodex. Als kollektive Identität trägt sie im Idealfall nicht nur zur Ordnung und Stabilität einer Gesellschaft bei, sondern hat einen großen Anteil an der Sinngebung für den Einzelnen. Ein echtes Leben im Glauben hat ein klares Ziel: Gott zu gefallen, ihm näher zu sein. Die Mittel dazu sind in den meisten Religionen klar definiert, ebenso wie ein Katalog an Belohnungsmöglichkeiten bei Einhaltung ebendieser Spielregeln. Für die Fragen des Einzelnen - vor allem jene nach dem Sinn des Lebens - haben die Weltreligionen klare Antworten bereit, haben Bilder und Geschichten geschaffen, Gut und Böse fein säuberlich sortiert. Kollektive, stets abrufbare Versatzstücke von Identität, die für den Einzelnen jederzeit abrufbar sind, Kraft geben und die so manche Leerstelle füllen.

Der Wegfall der Religion schafft vor allem Vereinzelung. Bedeutet eine radikale Individualisierung einer Gesellschaft. Denn wer nicht auf kollektive Sinnbilder zurückgreifen kann, muss sich selbst welche schaffen. Wer keine fertigen Antworten auf die Fragen des Lebens nutzen kann, muss sie sich selbst stellen. Oder aber ohne konkrete Antworten leben. Doch dazu ist nur ein verschwindend kleiner Teil der Menschheit in der Lage.

Also bilden sich neue kollektive Bezugs- und Identifikationsmuster - meist sind es nicht sonderlich philosophisch inspirierte Modelle wie etwa Konsumsucht, Wetteifern um Statussymbole und Macht oder diverse Formen der Fernsehberieselung. Gesundheits- und Fitnesswahn sind da noch vergleichsweise konstruktiv. Zumindest auf den ersten Blick. Irgendwie muss so ein Ich ja mit Inhalten gefüllt werden.

Wer kein Leben nach dem Tod erwartet, für den wiegt die Endlichkeit unendlich mehr. Dem ist die eigene Sterblichkeit der elementare Endpunkt und nicht ein Durchgangsstadium. Ohne das Jenseits muss das Diesseits für alles herhalten, muss alles einlösen. Das Hier und Jetzt ist alles, was es gibt. Vielleicht 80 Jahre, und aus.

Ein Vergleich zwischen Orient und Okzident, zwischen dem heutigen Europa und dem von gestern zeigt die gesellschaftlichen Unterschiede dieser Veränderung. Hier ein Mehr an individueller Identität und Glaube an das Recht an Selbstverwirklichung, dort ein größerer Anteil der kollektiven Persönlichkeitsbilder. Hier fast grenzenlose Freiheit, um den Preis der Vereinsamung. Dort ein starker familiärer, ja gesellschaftlicher Zusammenhalt, in der die Bedürfnisse des Einzelnen nicht immer an erster Stelle stehen. Hier der Vormarsch der Ein-Personen-Haushalte, der Single-Packungen im Supermarkt und der Antidepressiva in den Apotheken. Dort die Dominanz der Familien-Interessen und das duldsame Akzeptieren einer angeborenen sozial niedrigen Stellung. Dort ein klar definiertes Wertesystem, hier von Fall zu Fall tagende Ethikkommissionen und immer wieder neue politische Ehrenkodizes. Kollektivität versus Individualität. Freiheit versus Geborgenheit. Hier Wirtschaftskrise, dort revolutionärer Befreiungsschlag der Unterdrückten. Beides nicht die perfekte Welt.

Die Überwindung der Religion wird gemeinhin im Westen als evolutionärer Fortschritt gesehen. Aber macht er glücklicher? Freier sicher, individueller ganz bestimmt. Aber glücklicher kaum. Das macht Freiheit meist nur in der Vorstellung. Der Preis der Freiheit ist nach wie vor und immer wieder die Einsamkeit.

Religion als Opium für das Volk

Nur lässt sich das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Früher war auch nicht alles besser, und religiöse Gesellschaften haben heute wie damals auch ihre Probleme. Religion wurde und wird nicht umsonst als Opium für das Volk bezeichnet. Meist sind Religionen voller Dogmen, spielen mit den Ängsten der Menschen, machen sie manipulierbar und leichter zu führen. Diese Macht wurde allzu oft genutzt von den Mächtigen dieser Welt. Und der Glaube der Menschen wurde über Jahrhunderte hinweg missbraucht. Im Namen der Religion wurden und werden Kriege geführt, Menschen unterjocht, gefoltert, unterdrückt, ausgegrenzt, geächtet und getötet. Schuld daran war aber niemals der Glaube der Menschen, sondern das, was religiöse Institutionen daraus und damit gemacht haben.

These - Antithese - Synthese. Folgt man Georg Wilhelm Friedrich Hegels These des Widerspruchs als evolutionären Schlüsselprozess, was kommt nach Glauben und Nichtglauben, nach Kollektivität und Individualität? Kann es einen Glauben ohne Religion geben? Ein nicht institutionalisiertes Vertrauen in eine absolute Sinnhaftigkeit des Lebens? Ganz abstrakt und doch ganz konkret. Ohne die Fesseln der bunten Bilder und Geschichten der Religionen. Aber auch ohne die Ängste, die der Blick ins bodenlose, sinnlose Nichts bringt. Ein Selbstverständnis für Gut und Böse, ein konstruktives, gütiges Miteinander. Ein Rückhalt in einem Kollektiv der Einzelnen. Luftige Freiheit mit starkem Sicherheitsnetz.

Man wird doch noch träumen dürfen. Wenn es einem schon am Glauben fehlt.