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"Glaubt Europa noch an die Zukunft?"

Von Teresa Reiter

Politik
"Die Mehrheit in den USA schätzt, dass hier Menschen aus aller Welt leben", sagt Brimmer.
© Liebentritt

Esther Brimmer, ehemalige US-Staatssekretärin für Internationale Beziehungen, wundert sich über die bröckelnde Solidarität angesichts der Flüchtlingskrise. Die USA sollten ihre Meinung nach mehr Schutzsuchende aufnehmen.


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"Wiener Zeitung":Donald Trump dominiert mit seinen fremdenfeindlichen Äußerungen gegenwärtig die Außenwirkung des US-Wahlkampfs. Wäre die Stimmung gegenüber Einwanderern anders, befände man sich nicht gerade in einem Wahljahr?Esther Brimmer: Wenn wir das Wort "Immigration" verwenden, meinen wir oft verschiedene Dinge. Es gibt auf der Welt stärkere Migrationsbewegungen als je zuvor. Das hat auch einen Effekt auf regionale Arbeitsmärkte. Gleichzeitig beobachten wir vielen Ländern demografische Veränderungen. Es sind Länder, die zuvor nicht multikulturell und multiethnisch waren, aber es zunehmend werden. Außerdem gibt es in manchen Ländern viel illegale Migration, die wir managen müssen und zusätzlich die Flüchtlingskrise. Überall erfahren Menschen enorme ökonomische Veränderungen durch Globalisierung und technischen Fortschritt. Das wäre auch ohne Migration so. Jobs, die über Generationen existiert haben, gibt es plötzlich nicht mehr. Diese Dinge üben großen Druck aus und sorgen für ein Gefühl der Verunsicherungen in Gesellschaften. Es ist eine große Aufgabe, die richtige Antwort darauf zu finden.

Sie haben in Ihrer Rede im Kreisky Forum in Wien gesagt, dass Sie der Mangel an Solidarität unter den europäischen Staaten in Hinblick auf die Flüchtlingskrise überrascht. Die USA haben bisher die Aufnahme von wenigen tausend Flüchtlingen zugesagt. Wo ist die Solidarität der USA mit Europa?

Der Umgang mit einer solchen Krise ist sehr schwierig. In den USA haben wir eine Reihe von eigenen Problemen und ich würde auch gerne sehen, dass wir in unserem nationalen System bessere rechtliche Lösungen für Immigration finden. Ich als Außenstehende war überrascht, weil Solidarität einer der fundamentalen Werte der EU ist und man würde erwarten, dass ein Problem, das alle 28 Staaten betrifft, auch von allen 28 bewältigt wird. Natürlich denke ich, dass die USA und andere Länder mehr Flüchtlinge aufnehmen sollten, aber es ist eine der Stärken der EU, dass man eine gemeinsame Zukunft anstrebt. Ich frage mich: Glauben die Europäer noch an diese gemeinsame Zukunft?

Angela Merkel musste sich wiederholt den Vorwurf gefallen lassen, mit ihrer Art die Flüchtlingskrise zu managen, begehe sie politischen Selbstmord, den sie von anderen nicht verlangen könne. Obama hat sich der Opposition zum Trotz für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen ausgesprochen. Begeht er nun am Ende seiner Amtszeit politischen Selbstmord?

Ich glaube nicht, dass es notwendigerweise politischer Selbstmord ist. Jedes Land hat da unterschiedliche Dynamiken. In meinem Heimatland ist es eine sehr wichtige nationale Debatte über den Immigrationsprozess und nur weil manche Kandidaten von einer Partei sehr fremdenfeindlich auftreten, spricht das nicht für unser ganzes Land. Die Mehrheit der Amerikaner weiß zu schätzen, dass bei uns seit jeher Menschen aus aller Welt leben und sieht das als eine unserer Stärken. Obama ist heute einfach konsistent mit der Botschaft, die ihm schon am wichtigsten war, bevor er überhaupt gewählt wurde: die Botschaft einer einigen Gesellschaft.

Wenn wir über Migrationsbewegungen und Flüchtlinge sprechen, sprechen wir von vielen verschiedenen Gruppen: Syrer, Afghanen, Jesiden, Binnenflüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge. Erschaffen wir gerade eine Hierarchie, die festlegt, wessen Leben am wichtigsten ist?

Unsere erste Verpflichtung gilt den Flüchtlingen nach der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention. Viele Menschen auf der ganzen Welt sind Flüchtlinge und die Mehrheit von ihnen sind nicht in Europa. Länder wie Kenia und Pakistan und eine Menge andere nehmen seit langer Zeit große Zahlen von Flüchtlingen auf. Es gibt auch Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen emigrieren, was völlig legitim ist und wir brauchen Prozesse, um damit umzugehen. Und dann gibt es eine dritte Kategorie, in der wir noch sehr viel mehr leisten müssen: Menschen, die vor chronisch instabilen Gesellschaften fliehen. Das ist schwieriger, denn es kann sein, dass Menschen nie wieder zurückkehren können. Wir haben eine Verantwortung, all diesen Menschen zu helfen und können dabei nicht nach Herkunft oder Glaube unterscheiden.

Ist die Flüchtlingskrise auch ein Moment der Reflexion darüber, ob wir noch an die Werte der Flüchtlingskonvention glauben?

Ich glaube schon und ich glaube, dass wir uns neu den Werten der Konvention verpflichten müssen. Zu oft reagieren wir nicht gemäß den Bedürfnissen von Menschen in einer Krise. Es ist unsere Pflicht, Menschen nicht in gefährliche Situationen zurückzuschicken. Wir müssen darüber nachdenken, wie diese Menschen behandelt werden, wenn wir sie irgendwohin zurückschicken. Wir haben dieses Problem in den USA auch mit Südamerika.

Das ist auch ein Problem mit dem Deal, den die EU momentan mit der Türkei aushandelt. Ist der Kompromiss, den die EU speziell hinsichtlich der Menschenrechtssituation in der Türkei eingeht zu groß?

Wir werden sehen, was die endgültigen Bedingungen der Vereinbarung sind. Es muss sichergestellt werden, dass Menschen nicht in eine Situation zurückgeschickt werden, die für sie gefährlich ist. Ich hoffe, dass es wirksame Durchsetzungs- und Kontrollmechanismen dafür geben wird, denn man kann nicht einfach einen solchen Deal eingehen und sich dann von den Konsequenzen abwenden.

Zur Person

Esther Brimmer

war von 2009 bis 2013 US-Staatssekretärin für Internationale Beziehungen. Nach ihrem Ausscheiden aus der Politik setzte sie ihre akademische Laufbahn fort. Derzeit ist sie Professorin für Internationale Beziehungen an der George Washington University. Sie war zu Gast im Kreisky Forum.